22.04.2025

Viel Kritik, aber auch Lob: Meinungen zum Koalitionsvertrag

146 Seiten stark ist der Koalitionsvertrag, den CDU, CSU und SPD am 9. April 2025 vorgestellt haben. Die Gremien der CSU haben den Vertrag bereits angenommen, die CDU will am 28. April beim Bundesausschuss eine Entscheidung treffen. Die Abstimmung der SPD-Mitglieder läuft noch bis zum 29. April. Während die drei Parteien über den Koalitionsvertrag beraten, melden sich verschiedene Verbände zu Wort.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM) begrüßt in ihrer Stellungnahme, dass Werkstätten laut Koalitionsvertrag erhalten und reformiert werden sollen. Man unterstütze das Ziel der künftigen Bundesregierung, das Werkstattentgelt zu verbessern – dafür seien aber umfassende gesetzliche Änderungen nötig, schreibt die BAG WfbM.

Sie lobt die im Koalitionsvertrag angekündigte Ausweitung der Nachteilsausgleiche und die attraktivere Ausgestaltung des Budgets für Arbeit. Mit dem Ziel, mehr Menschen einen Wechsel aus einer Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen, komme die Regierung einer Forderung des Fachausschusses der Vereinten Nationen nach.

Entwicklungen im Bereich des Digitalen und damit einhergehende Veränderungen des Arbeitsmarktes könnten neue Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderungen erschließen und die Durchlässigkeit im System der beruflichen Rehabilitation und zum allgemeinen Arbeitsmarkt erhöhen. Auch dass SPD und Union planen, die Teilhabechancen von Menschen mit komplexen Behinderungen zu verbessern, wird von der BAG WfbM positiv wahrgenommen.

Ebenfalls positiv bewertet sie, dass der Koalitionsvertrag vorsieht, die Förderung von Werkstätten und Wohnheimen für Werkstattbeschäftigte aus der Ausgleichsabgabe wieder zu ermöglichen. Die Ausgleichsabgabe ist der Betrag, den Arbeitgeber in Deutschland monatlich zahlen müssen, wenn sie die Quote zur Beschäftigung von schwerbehinderten oder ihnen gleichgestellten Menschen – mindestens fünf Prozent der Stellen bei mindestens 20 Arbeitsplätzen – nicht erreichen. Pro nicht besetztem Pflichtarbeitsplatz liegt die Ausgleichsabgabe bei 140 bis 720 Euro, je nachdem, in welcher Höhe die Beschäftigungspflicht (nicht) erfüllt wird (SGB IX § 160).

ISL: „Unverbindliche Absichtserklärungen“

Eben diesen Punkt beurteilt die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) kritisch: Der UN-Fachausschuss habe Deutschland im Herbst 2023 dazu aufgefordert, Sonderstrukturen in den Bereichen Arbeit, Bildung und Wohnen abzubauen. „Im Koalitionsvertrag ist nun aber das Gegenteil verabredet worden, wenn Gelder der Ausgleichsabgabe wieder zum Bau von Werkstätten für behinderte Menschen und Wohnheimen genutzt werden können“, wird Geschäftsführerin Wiebke Schär in der Pressemitteilung der ISL zitiert. „Mutlos“ und „enttäuschend“ sei der Koalitionsvertrag, voll von „unverbindlichen Absichtserklärungen“.  Die ISL vermisst die „längst überfällige“ Verpflichtung privater Anbieter von Produkten und Dienstleistungen zur Barrierefreiheit und Initiativen zur barrierefreien Mobilität. Als positiv bewertet Schär u. a. die Förderung einer barrierefreien digitalen Infrastruktur, die Stärkung des Gewaltschutzes, die Sicherung der Finanzierung der Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatungsstellen und das Bekenntnis zum barrierefreien Wohnungsbau. Bei Maßnahmen zum Klimaschutz oder zur Katastrophenvorsorge würden Menschen mit Behinderungen allerdings nicht mitgedacht.

DBR: Partizipation von Menschen mit Behinderungen an politischen Prozessen nicht geregelt

Sowohl Lob als auch Kritik kommt vom Deutschen Behindertenrat (DBR). Bei der Verpflichtung privater Anbieter von Produkten und Dienstleistungen zur Barrierefreiheit „bewegten sich die Parteien zumindest einen Schritt nach vorn“, heißt es in der Pressemitteilung. Die Reform des Behindertengleichstellungsgesetzes müsse nun unmittelbar erfolgen. Auch die geplante Werkstätten-Reform heißt der DBR gut. Er bemängelt jedoch, dass – anders als von ihm im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen gefordert – eine gesetzliche Grundlage für die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen an politischen Prozessen fehle. Ob die neue Regierung dieses Thema angehe, bleibe offen.

Kritisch sieht der DBR, dass der Koalitionsvertrag in weiten Teilen unter Finanzierungsvorbehalt steht, viele Vorhaben also nur verwirklicht werden sollen, wenn die erforderlichen Gelder vorhanden sind.  Was diese Einschränkung für die Pläne im Bereich Inklusion und Teilhabe bedeute, sei fraglich. „Wichtige Reformen müssen jetzt umgesetzt werden. Die Arbeit für die Belange von Menschen mit Behinderungen darf nicht unter Kostenvorbehalt stehen“, sagt Hannelore Loskill, Sprecherinnenratsvorsitzende des DBR.

(Quellen: BAG WfbM, DBR, ISL, Rehadat, Tagesschau, ZDF)