17.05.2024

Fachgespräch „Recht auf Bildung – Zur Bedeutung des BVerfG-Beschlusses für die Teilhabe an schulischer Bildung von Schülern und Schülerinnen mit psychischen Erkrankungen“

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte im November 2021 in einem Beschluss betont, dass Kinder und Jugendliche ein verfassungsrechtlich verbrieftes Recht auf Schulbildung hätten. Die Frage nach der Bedeutung dieses Beschlusses für die Teilhabe an schulischer Bildung von Schülern und Schülerinnen mit psychischen Erkrankungen stieß auf großes Interesse in den Fachkreisen: Über 30 Expertinnen und Experten, darunter die Inklusionsreferentinnen und -referenten aus fast allen Bildungsministerien der Länder, nahmen am 4. März 2024 an dem Online-Fachgespräch der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) und des Verbands Sonderpädagogik (vds) teil.

Ziel des Fachgesprächs war es, die Bedeutung des Beschlusses des BVerfG zu den Mindeststandards im Bildungsbereich auch für die schulische Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen zu verdeutlichen. Der DVfR-Fachausschuss „Bildung, Erziehung und Schule“ hat zu dem Beschluss ein Diskussionspapier erstellt. Auf bildungspolitischer Ebene wurde der Beschluss des BVerfG kaum wahrgenommen. Die Konsequenzen, die er zur Sicherung der schulischen Teilhabe beinhalten könnte, wurden daher kaum diskutiert. Mit der Veranstaltung sollte ein Impuls zur Sicherung der Teilhabe an schulischer Bildung im Bereich der Früherziehung, der schulischen wie beruflichen Bildung gesetzt werden.

Nach einer Begrüßung von Dr. Matthias Schmidt-Ohlemann (DVfR) übernahmen Dr. Angela Ehlers (vds) und Manfred Weiser (DVfR) die Moderation der Veranstaltung. Von Seiten der Kultusministerkonferenz (KMK) begrüßten Dr. Christoph Schürmann und Dagmar Lorenzen (Sprecher bzw. Sprecherin der KMK-Inklusionsbeauftragten) die Teilnehmenden.

Prof. Dr. Felix Welti (Universität Kassel) nahm in seinem Beitrag eine verfassungsrechtliche Einordnung des BVerfG-Beschlusses vor. In seinem historischen Rückblick auf die Entwicklung des Rechts auf Bildung ging er auf die rechtlichen Entwicklungen durch Entscheidungen des BVerfG in Bildungsfragen ein. Aus dem aktuellen BVerfG-Beschluss vom 19. November 2021 sei zu folgern, dass gleiche Teilhabe im Sinne einer Pflicht zu angemessenen Vorkehrungen und zu Inklusion verstanden werden müsse. Das Benachteiligungsverbot nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz fordere dabei einen strengen Maßstab und gelte selbstverständlich ebenfalls für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Daraus folgend dürften Kinder und Jugendliche mit psychischen/seelischen Behinderungen nicht gegenüber denjenigen mit körperlichen Behinderungen benachteiligt werden.

In der nachfolgenden lebhaften Diskussion stellte Prof. Dr. Welti noch einmal fest, dass es den Klageweg brauche, um die Verhältnisse in der Bildungslandschaft diesbezüglich in Bewegung zu bringen. Mit jedem Bericht zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention entstünde mehr Druck auf die Staaten, in die Umsetzung zu kommen. Besonders wichtig seien hier die fachlichen Fundierungen des Anspruchs auf inklusive Bildung.

Prof. Dr. Thomas Müller (Universität Würzburg) ordnete in seinem Vortrag den Beschluss des BVerfG aus pädagogischer Sicht ein. Nach einem Überblick über die Quantitäten psychischer Störungen in prä- und post-pandemischen Zeiten zeigte Prof. Dr. Müller grundsätzliche Faktoren auf, die psychische Erkrankungen begünstigen (wie weibliches Geschlecht, geringer sozioökonomischer Status, Migrationshintergrund). Es folgte ein Überblick über die Folgen der Schulschließungen während der Corona-Pandemie und darüber, welche zukünftigen Aufgaben sich sowohl institutionell als auch inhaltlich aus den gewonnenen Erkenntnissen ableiten lassen. Es sei dringend geboten, dass sich alle pädagogischen Einrichtungen mit ihren Haltungen und Erziehungsvorstellungen im Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen auseinandersetzen. Für diese Kinder und Jugendlichen sei es wesentlich, dass es pädagogischen Einrichtungen gelingt, „Konzepte sicherer Orte“ zu entwickeln und auszubauen. Insgesamt sei eine verstärkte Ausbildung der pädagogischen Fachkräfte im Umgang mit psychischen Erkrankungen dringend geboten, auch um schulische Konzepte entwickeln zu können, in denen sich Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen selbstwirksam erleben können.

In der anschließenden Diskussion zu den aktuellen Herausforderungen in der Versorgung von psychiatrisch erkrankten Kindern und Jugendlichen thematisierte Prof. Müller das zunehmende Problem, dass es bei psychiatrischen Kliniken die „starke Tendenz“ gäbe, Kinder und Jugendliche mit herausforderndem Verhalten aus „disziplinarischen Gründen“ aus den Psychiatrien zu verweisen. Es sei sehr schwierig bis unmöglich, diesen Kindern und Jugendlichen die erforderliche Hilfe zukommen zu lassen.

Inklusion durch Beratung stärken

Stephan Prändl, Leiter der Heinrich-Brügger-Klinikschule der Waldburg-Zeil Kliniken, ordnete den Beschluss des BVerfG aus der Praxis ein und stellte dabei seine Einrichtung und deren Entwicklung vor. Diese habe sich von einer Schule für Kranke, die vor allem für das Erlernen von Schulstoff konzipiert war, zu dem heutigen Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum (SBBZ) entwickelt, dessen Aufgaben die (Mit-)Gestaltung von individuellen Bildungswegen von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen sei. Es gehe bei der Arbeit seiner Einrichtung um inklusive Bildung. Er betonte, dass Kinder und Jugendliche mit psychiatrischen Erkrankungen andere Bildungswege vor sich / hinter sich hätten als Kinder ohne Erkrankungen. Ihre Bildungswege seien häufig von Unterbrechungen und kleineren sowie größeren Herausforderungen geprägt. Einen guten, realistischen Umgang mit Friktionen zu erreichen und die Inklusion durch Beratung zu stärken, sei u. a. Aufgabe der SBBZ. Ziel solle außerdem eine Sensibilisierung von Lehrenden an allgemeinbildenden Schulen sein.

Mechthild Ziegler, Vorsitzende des Vereins „Lernen Fördern“, schloss die Expertenrunde mit einer Einordnung des Beschlusses aus der Perspektive der Eltern ab. Aus Sicht der Eltern, so homogen diese Gruppe auch sei, habe Bildung für ihre Kinder einen zentralen Stellenwert. Die Zeit der Schulschließungen während der Pandemie sei von den Familien sehr unterschiedlich wahrgenommen worden, von positiv bis sehr belastend. Uneingeschränkt positiv an dem BVerfG-Beschluss sei, dass sich das BVerfG intensiv mit dem Recht auf Bildung auseinandergesetzt habe und wegweisende Leitsätze beschlossen worden seien. In diesen Leitsätzen sei ein Anspruch auf Mindeststandards festgelegt worden, die die Persönlichkeitsentwicklung mit einschließen. Für die Zukunft sei eine Definition dieser Mindeststandards in der Sonderpädagogik geboten. Die Eltern seien die Expertinnen und Experten für die Belange ihrer Kinder und sollten in die Umsetzung von Mindeststandards zu Erziehungspartnerschaften und die Gestaltung der Bildungsprozesse in jedem Fall einbezogen werden.

Nach den vier Vorträgen moderierten Dr. Angela Ehlers und Manfred Weiser eine Podiumsdiskussion mit Klaus Gößl (Bayerisches Kultusministerium), Prof. Dr. Thomas Müller, Stephan Prändl, Prof. Dr. Felix Welti und Mechthild Ziegler.

Wichtige Forderungen aus der gemeinsamen Veranstaltung:

  • Es bedarf des Klagewegs, um Schwung in die Debatte und den Gesetzgeber zum Handeln zu bringen.
  • Es braucht (Weiter-)Entwicklungen von Mindeststandards in der Umsetzung des Rechts auf Bildung und vor allem Standards für eine inklusive Bildung.
  • Eine Einbeziehung der Regelschulen in die weitere Diskussion ist unbedingt wünschenswert.
  • Kinder mit psychiatrischen Erkrankungen benötigen das Recht auf Kinder-Rehabilitation (analog zu anderen Krankheitsbildern) und dadurch einen gesicherten Zugang zu Unterstützungsleistungen.
  • Die SBBZ haben die Kompetenzen, um das Personal an allgemeinbildenden Schulen weiterzubilden. Die SBBZ können als Qualifizierungszentren in den Regionen fungieren. Es muss darum gehen, die schon vorhandenen Werkzeuge besser zu nutzen, um so die Teilhabe an Bildung für Kinder und Jugendliche mit psychischen Erkrankungen zu stärken.
     

Vorträge der Referierenden

Verfassungsrechtliche Einordnung des Beschlusses des BVerfG
Prof. Dr. Felix Welti, Professor für Sozial- und Gesundheitsrecht, Recht der Rehabilitation und Behinderung, Universität Kassel

Eine Einordnung des Beschlusses des BVerfG zu Schulschließungen während der Corona-Pandemie aus (sonder)pädagogischer Sicht
Prof. Dr. Thomas Müller, Universität Würzburg

Teilhabe an Bildung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Beeinträchtigungen – Pädagogische Aspekte
Stephan Prändl, Schulleiter Klinikschule, Klinik Waldburg-Zeil

Zur Bedeutung des BVerfG-Urteils für die Teilhabe an schulischer Bildung von Schülerinnen und Schülern mit psychischen Erkrankungen – Einordnung aus der Sicht der Eltern
Mechthild Ziegler, Lernen Fördern Bundesverband e. V.