02.11.2022

Fachtagung „Teilhabe von Kindern mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen: Was brauchen ihre Familien in Belastungssituationen? – Lehren aus der Pandemie“

Über 120 Interessierte nahmen am 25. Oktober 2022 teil an der Online-Fachtagung „Teilhabe von Kindern mit chronischen Erkrankungen und Behinderungen: Was brauchen ihre Familien in Belastungssituationen? – Lehren aus der Pandemie“. Die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation e. V. (DVfR) organisierte die Veranstaltung in Kooperation mit der Diakonie Deutschland, dem Kindernetzwerk (knw) und der Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung – Bundesvereinigung (VIFF). Referierende, Teilnehmende und Betroffene gingen unter der Moderation von Arnd Longrée der Frage nach, was Familien und ihre Kinder mit chronischen Erkrankungen und mit (drohenden) Behinderungen in Belastungssituationen für eine adäquate Teilhabe brauchen.

Der Vorsitzende der DVfR, Dr. Matthias Schmidt-Ohlemann, gab einführend einen Überblick über die Ergebnisse des Konsultationsprozesses, der die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der Corona-Pandemie untersuchte. Es habe sich gezeigt, dass die Pandemie und die Schutzmaßnahmen zu Einschränkungen in der Versorgung und zu Rückschritten bei der Teilhabe und der Inklusion führten, und dass sich bereits vorliegende Mängel noch verschärft hätten. Dies habe für betroffenen Familien in besonderem Maße zu Notsituationen geführt. Gesetzlich vorgesehene Unterstützungsleistungen hätten oft nicht zur Verfügung gestanden, seien nicht beantragt oder zeitnah bewilligt worden, oder seien häufig auch nicht bekannt gewesen.

Notsituationen erfahren Familien mit behinderten Kindern aber auch außerhalb von Pandemiezeiten und z. T. auch regelmäßig. Die dadurch entstehenden Belastungen sind häufig gravierend und schränken die Teilhabechancen aller Familienangehörigen erheblich ein.

Dr. Christian Fricke, 1. Vorsitzender der Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung (VIFF), stellte die Unterstützungsleistungen vor, die in verschiedenen Sozialgesetzbüchern verankert sind (SGB V, VI, VII, VIII, IX, XI, XII). Auf pflegende Eltern wirke die Vielzahl von Zuständigkeiten, Einrichtungen und Verwaltungswegen wie ein unübersichtlicher „Dschungel“. Dies erschwere es, die möglichen Unterstützungsleistungen zu erkennen und in Anspruch zu nehmen. So zeige sich in der Praxis eine mangelnde Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben durch die Leistungsträger.

Für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) stellte Dr. Carolin Söfker politische Maßnahmen vor, welche auf die Pandemie und ihre Auswirkung auf Familien mit behinderten Kindern und auf andere Bedarfslagen reagieren. Sie verwies auf zahlreiche vorhandene Unterstützungsleistungen, u. a. auch auf den neu formulierten § 20 SGB VIII (Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsituationen). Eine wichtige Maßnahme für die Zukunft sei die Qualifizierung und Etablierung von Verfahrenslotsen gemäß dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz. Diese Lotsen sollen betroffene Familien ab 2024 begleiten, zielgerichtet und bedarfsorientiert informieren und bei Anträgen unterstützen. Verstärkte Digitalisierung soll außerdem die Information und den Zugang zu Leistungen verbessern. Die Kindergrundsicherung soll die Familien außerdem finanziell stärker entlasten.

Kerrin Stumpf, Geschäftsführerin des Vereins Leben mit Behinderung Hamburg und Vorstandsmitglied des Bundesverbands für körper- und mehrfachbehinderte Menschen (bvkm), moderierte zwei Diskussionsrunden mit betroffenen Eltern. Darin wurde die besondere Belastung für pflegende Mütter und Väter, die Geschwisterkinder, die Partnerschaft sowie für die Berufstätigkeit und finanzielle Lage der Familie deutlich. Schwierig gestaltet sich auch die Feststellung der Bedarfe. Die Versorgungsprozesse sind oft langwierig, bürokratisch und restriktiv; sie sind außerdem in den verschiedenen Bundesländern unterschiedlich.

Durch die Impulsvorträge von Brigitte Bührlen (WIR – Stiftung pflegender Angehöriger), Dr. Annette Mund (knw) und von Gitta Hüttmann (Überregionale Arbeitsstelle für Frühförderung Brandenburg) sowie durch die Schilderungen der Eltern wurde deutlich, dass die Instrumente des SGB IX zur Teilhabesicherung in der Praxis nicht zuverlässig greifen. Dies ist der Fall bei der Bedarfsermittlung, der Bereitstellung der Leistungsangebote oder bei der Klärung der Finanzierung im Rahmen einer umfassenden Teilhabeplanung. (Alle Vorträge finden Sie unter "Downloads" unten.)

Wichtige Forderungen aus der gemeinsamen Veranstaltung:

  • Pflegende Eltern brauchen Hilfe, um im „Dschungel“ der gesetzlichen Regelungen und der zahlreichen Leistungsangebote, die notwendige Unterstützung in Anspruch nehmen zu können. Die Idee, dass dies durch eine Beratungsstelle oder gar eine Person zu leisten sei, wurde problematisiert und angeregt, dass bestehende Beratungsangebote sich regional vernetzen und mit den geplanten Verfahrenslotsen kooperieren sollen.
     
  • Feste Regelungen für den Erhalt der Teilhabe müssen auch in Krisenzeiten gelten und für die betroffenen Familien verlässlich sein. Die entsprechenden Informationen dazu müssen leicht zugänglich und verständlich sein.
     
  • Die große Bedeutung pflegender Eltern sollte als systemrelevant anerkannt werden. Vor allem Eltern in prekären Lebenslagen, mit Migrations- oder bildungsfernem Hintergrund sollten mehr und nachhaltigere Unterstützung zur Verbesserung ihrer Lebenslage erhalten. Gerade ihnen sollten Information und Zugang zu Leistungen erleichtert werden.
     
  • Die Interessenvertretung v. a. von Kindern mit schweren Behinderungen darf nicht nur den Eltern überlassen sein. Sie sollte breiter aufgestellt werden, nicht nur im Rahmen der Selbsthilfe, sondern auch in Fachverbänden und in der Wissenschaft. Auch vermehrte Öffentlichkeitsarbeit kann dazu beitragen.
     
  • Für Politik und Leistungsträger muss es eine „Bringschuld“ geben, dass die Inanspruchnahme gesetzlich verankerter Leistungen adäquat ermöglicht wird. Leistungen etwa der Eingliederungs-, Kinder- und Jugendhilfe dürfen nicht nur gesetzlich festgeschrieben sein, sondern müssen auch bundesweit institutionell und personell trotz Fachkräftemangel vorhanden und verfügbar sein.
     
  • Der Prozess der Gesetzesänderungen im SGB VIII muss begleitet werden. Die Perspektive der Kinder und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen und ihrer Familien sowie ihre spezifischen Bedarfe müssen beachtet werden. Auch die Bedarfe, welche die Vermeidung bzw. Bewältigung von Notlagen betreffen, sind bei der Gestaltung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe genau zu beachten. Dazu sollten sich die Verbände aller Akteure, d. h. mit und ohne Beeinträchtigungen, vernetzen und ihren Einfluss geltend machen.

Die Frage, ob der vorhandene gesetzliche Leistungskatalog zur Bewältigung von Notsituationen ausreichend ist, konnte nicht abschließend beantwortet werden. Denn die Teilnehmenden kamen zu der Erkenntnis, dass vorhandene Leistungsansprüche wegen der Pandemie, der unzureichenden Information, des Fachkräftemangels und noch unzureichender Beratung nicht eingelöst werden können.

Der Fachausschuss „Interdisziplinäre Entwicklungsförderung und Rehabilitation für Kinder“ wird die Tagung weiter auswerten und das Thema auch zukünftig bearbeiten.

Weitere Informationen für betroffene Familien bietet auch das Kindernetzwerk (knw) und die Vereinigung für interdisziplinäre Frühförderung (VIFF).


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