13.12.2023

Verfassungsbeschwerde gegen Triage-Regelung im Infektionsschutzgesetz

14 Fachärztinnen und Fachärzte aus den Bereichen Notfall- und Intensivmedizin haben mit Unterstützung des Marburger Bunds eine Verfassungsbeschwerde eingereicht. Sie richtet sich gegen die vor einem Jahr im Infektionsschutzgesetz (IfSG) beschlossene Regelung zum Umgang mit begrenzten überlebenswichtigen intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten bei übertragbaren Krankheiten. Diese Triage-Reglung soll u. a. Menschen mit Behinderungen schützen. Die LIGA Selbstbestimmung kritisiert die Verfassungsbeschwerde scharf.

Die Ärztinnen und Ärzte wenden sich in ihrer Verfassungsbeschwerde v. a. gegen die Regelungsinhalte in § 5 c (Verfahren bei aufgrund einer übertragbaren Krankheit nicht ausreichend vorhandenen überlebenswichtigen intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten) des Infektionsschutzgesetzes von 2022:

  • den Positiv-Negativ-Kriterienkatalog für eine Zuteilungsentscheidung über intensivmedizinische Behandlungskapazitäten gemäß § 5c Abs. 1 Satz 1 IfSG: „Niemand darf bei einer ärztlichen Entscheidung über die Zuteilung aufgrund einer übertragbaren Krankheit nicht ausreichend vorhandener überlebenswichtiger intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten (Zuteilungsentscheidung) benachteiligt werden, insbesondere nicht wegen einer Behinderung, des Grades der Gebrechlichkeit, des Alters, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung“;
     
  • § 5c Abs. 2 IfSG: „Eine Zuteilungsentscheidung darf nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patientinnen und Patienten getroffen werden. […] Kriterien, die sich auf die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit nicht auswirken, wie insbesondere eine Behinderung, das Alter, die verbleibende mittel- oder langfristige Lebenserwartung, der Grad der Gebrechlichkeit und die Lebensqualität, dürfen bei der Beurteilung der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit nicht berücksichtigt werden“;
     
  • das grundsätzliche Verbot der Ex-post-Triage gemäß § 5c Abs. 2 Satz 4 IfSG: „Bereits zugeteilte überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungskapazitäten sind von der Zuteilungsentscheidung ausgenommen“. (Bei der Ex-Post-Triage kann die medizinische Behandlung z. B. eines Patienten zugunsten eines anderen Patienten abgebrochen werden, wenn Letzterer bessere Überlebenschancen aufweist.)

Diese Regelungen machten ein mit ärztlichen Grundsätzen – ethisch wie medizinisch – zu vereinbarendes Handeln in einer Dilemmasituation unmöglich und verursachten eine erhebliche Rechtsunsicherheit und ein signifikantes Strafbarkeitsrisiko, so der Marburger Bund. Ärztinnen und Ärzte seien verpflichtet, ihren Beruf „nach ihrem Gewissen, den Geboten der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit“ auszuüben. Durch die Triage-Regelung würden ihnen jedoch Grenzentscheidungen aufgezwungen, die ihrem beruflichen Selbstverständnis  widersprächen und sie in eklatante Gewissensnöte bringen. Argumentiert wird u. a., dass das Diskriminierungsverbot in der Triage-Regelung und die daraus folgenden Zuteilungsentscheidungen widersprüchlich seien. Das Verfahren für Zuteilungsentscheidungen sei unpraktikabel und in grundrechtsverletzender Art und Weise ausgestaltet, weil kein verfahrensauslösendes Ereignis definiert sei.

Die Verfassungsbeschwerde stößt u. a. bei der LIGA Selbstvertretung auf große Kritik. Ihre Sprecherin Prof. Dr. Sigrid Arnade sagt: „Mit ihren geplanten Verfassungsklagen gegen die Triage-Regeln im Infektionsschutzgesetz verstoßen Teile der organisierten Ärzteschaft sowohl gegen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als auch gegen das Genfer Ärztegelöbnis.“ Mit der  Ex-post-Triage  würde das Prinzip „Nur die Stärksten sollen überleben“ bei Ressourcenknappheit in einer Pandemie eingeführt, das unter anderem behinderte und alte Menschen deutlich benachteilige.

Wie die LIGA Selbstvertretung berichtet, haben auch die Landesärztekammern von Hessen und Westfalen-Lippe auf ihren Delegiertentreffen im November diese Verfassungsklage ausdrücklich unterstützt. Ebenso habe sich die Bundesärztekammer bereits im Mai 2022 auf dem 126. Ärztetag in einem Beschluss für die Einführung der Ex-post-Triage ausgesprochen.

Auch die DIVI, die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, plant nach Informationen der LIGA Selbstvertretung eine Verfassungsklage gegen das Verbot der Ex-Post-Triage. „Mit ihren klinisch-ethischen Empfehlungen aus dem Frühjahr 2020 hatte die DIVI einen Proteststurm behinderter Menschen ausgelöst“, erklärt Arnade, und dazu beigetragen, dass das Bundesverfassungsgericht im Dezember 2021 den Bundestag verpflichtete, behinderte Menschen gesetzlich vor einer Triage zu schützen. Und das will die Ärzteschaft nun rückgängig machen.“

Weitere Informationen

 Stellungnahme der DVfR zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes – Vermeidung einer pandemiebedingten Triage

Meldungen der DVfR: Triage-Gesetz "unverzüglich und menschenrechtsbasiert" gefordert und Bundesverfassungsgericht zu Triage-Regelungen

Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG), Website des Bundesministeriums für Justiz

(Quellen: Marburger Bund, LIGA Selbstvertretung - politische Interessenvertretung der Selbstvertretungs-Organisationen behinderter Menschen in Deutschland)