11.01.2021

Kontroverse zu Corona-Impfstrategie

Menschen mit einem hohen Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf bei einer Covid-19-Infektion sollen vor anderen Gruppen geimpft werden. Dies ist vor allem für alte Menschen ab 80 Jahren oder solche mit Pflegebedarf in entsprechenden Einrichtungen der Fall. Menschen mit Behinderungen, die Zuhause gepflegt und betreut werden, fallen derzeit nicht unter die prioritäre Impfregelung.

Verbände für behinderte Menschen kritisieren das Bundesgesundheitsministerium für diese unterschiedliche Einordnung. Für Corinna Rüffer, Sprecherin für die Behindertenpolitik von Bündnis 90/Die Grünen, ist dies „ein unhaltbarer Zustand.“  Nach ihrem Verständnis „haben diese Personen naturgemäß sehr engen Kontakt mit Pflege- und Assistenzkräften und sind somit einer erheblichen Gefahr ausgesetzt, sich anzustecken. Manche Menschen mit Behinderung leben deshalb seit Monaten zuhause in Selbstquarantäne, verzichten aus Angst vor Ansteckung auf Assistenz und Therapien. Stattdessen müssen die Angehörigen die komplette Assistenz und Pflege übernehmen.“ Rüffer betont, dass gerade diese vulnerable Gruppe beim Zugang zu Impfungen und Tests so behandelt werden müsse wie Betreute und Personal in Altenheimen und Behinderteneinrichtungen.

Die Landesbehindertenbeauftragte von Baden-Württemberg, Stephanie Aeffner, sagte gegenüber den kobinet-Nachrichten: „Menschen mit Heimbeatmung, Menschen, die auf eine Organtransplantation warten, oder solche, die beispielsweise wegen einer hohen Querschnittslähmung nur schwer abhusten können. Das sind nur einige Diagnosen, die bei den höheren Prioritäten für eine Impfung fehlen. Und gleichzeitig weigert sich die Regierung, die Triage gesetzlich zu regeln. So gelten weiter die Empfehlungen der DIVI*, die pauschal eine geringere Überlebenswahrscheinlichkeit annehmen, wenn jemand nicht laufen kann oder bei der Körperpflege auf Unterstützung angewiesen ist. Während also viele Menschen, die mit einer Behinderung ambulant leben, weder auf eine schnelle Impfung hoffen können noch prioritär mit Schutzausrüstung versorgt werden, müssen sie gleichzeitig mit der Angst leben, bei einer Infektion nicht alle lebenswichtigen Behandlungen zu erhalten, wenn die Kapazitäten der Kliniken ausgeschöpft sind. Das ist an Zynismus kaum zu überbieten.“

Die ständige Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut erarbeitete Empfehlungen für die Impfstrategie, die das Bundesgesundheitsministerium für die Impfreihenfolge per Verordnung zugrunde legte. Thomas Mertens, der Vorsitzende der STIKO, sagte gegenüber dem Westdeutschen Rundfunk, dass dafür wissenschaftliche Studien zur Sterblichkeit einzelner Gruppen durch Covid-19 ausgewertet worden seien. Die gebe es für Menschen mit Behinderung in der Risikogruppe, die zu Hause leben, nicht.

Gemäß den STIKO-Empfehlungen gibt es Spielräume für die Impfung weiterer Personen: „Bei der Priorisierung innerhalb der COVID-19-Impfempfehlung der STIKO können nicht alle Krankheitsbilder oder Impfindikationen berücksichtigt werden. Deshalb sind Einzelfallentscheidungen möglich. Es obliegt den für die Impfung Verantwortlichen, Personen, die nicht explizit genannt sind, in die jeweilige Priorisierungskategorie einzuordnen.“

Derzeit prüft außerdem das nordrhein-westfälische Gesundheitsministerium, ob Menschen mit Trisomie 21 aufgrund ihres nachgewiesenermaßen höheren Sterberisikos innerhalb ihrer Impfgruppe vorrangig geimpft werden können. 

(*DIVI: Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e. V.)

Weitere Informationen

Webseite von Corinna Rüffer

STIKO-Empfehlung zur COVID-19-Impfung

Stephanie Aeffner in kobinet-Nachrichten

 

(Quellen: Robert Koch-Institut/STIKO, kobinet-Nachrichten, Westdeutscher Rundfunk/A. Lordieck 10.01.2021)