25.04.2012

Kongressbericht vom 21. Rehakolloquium im März 2012 in Hamburg - Die Balance zwischen Hamsterrad und Vollbremsung

Auf dem 21. Rehabilitationswissenschaftlichen Kolloquium in Hamburg haben sich mehr als 1500 Experten über neue Konzepte ausgetauscht und über aktuelle Herausforderungen der Reha nachgedacht.

„Soll die Rehabilitation den Patienten wieder fit machen, damit er sich im Hamsterrad der Moderne erneut erschöpft?“ Mit dieser Frage verwies Professor Hartmut Rosa pointiert auf das Spannungsfeld, in dem die Rehabilitation heute steht. Der Soziologe aus Jena war Plenarreferent zur Eröffnung des diesjährigen Rehabilitationswissenschaftlichen Kolloquiums. Mehr als 1500 Experten waren dazu Anfang März nach Hamburg gekommen. Der jährliche Kongress ist das bedeutendstes Forum der Rehaforschung. Die Rehabilitation ist, so Rosa, wie viele andere Bereiche einer permanenten Beschleunigung ausgesetzt: In Wissenschaft und Medizin veraltet das Praxis-Wissen immer schneller. Ziele, Instrumente und Methoden stehen unter Dauerrevision. Das Tempo entwertet Erfahrung und Expertise und führt zu Entfremdung und nicht zu gelebten Beziehungen. Aus dieser Perspektive heraus stellte Rosa die Frage: „Wie kann Rehabilitation da noch heilsam wirken?“.

Das Renteneinstiegsalter steigt – und auch der Bedarf an Rehabilitation

Keine Frage, die Rehabilitation steht vor großen Herausforderungen – und mit ihr die wachsende Gemeinschaft der Rehawissenschaftler. Ihre gemeinsame Aufgabe ist es, über effiziente Rehamaßnahmen die Gesellschaft am Laufen zu halten, die Teilhabe des Einzelnen zu fördern und seine individuelle Leistungs- und Erwerbsfähigkeit wiederherzustellen. An neuen Herausforderungen gibt es auf absehbare Zeit keinen Mangel: Die demografische Entwicklung sorgt für eine wachsende, ältere Bevölkerungsschicht, die sehr viel häufiger Rehabilitation in Anspruch nehmen wird. Die „Rente mit 67“, also der von diesem Jahr an geltende spätere Einstieg in den Ruhestand, fordert obendrein, dass Arbeitnehmer ein Erwerbsleben lang fit bleiben. Bislang lässt sich jedoch ein großer Prozentsatz der Berufstätigen vorzeitig verrenten und Unternehmer haben in der Vergangenheit gerne gesetzliche Regelungen genutzt, um ältere Erwerbstätige von ihren Gehaltslisten zu streichen. Jetzt wird die Wende eingeleitet: Dr. Axel Reimann, Direktor der DRV Bund, betonte bei der Tagung, dass gezielte Interventionen der Rehabilitation notwendig sind, damit die Menschen über bisherige Altersgrenzen hinaus erwerbsfähig bleiben.

Die Arbeitsverdichtung erschöpft, psychische Erkrankungen nehmen zu

Obendrein haben sich Gesellschaft und Arbeitswelt gewandelt. Die Folgen dessen, was Professor Rosa in seiner Kritik beschreibt, erleben Rehamediziner und –therapeuten täglich in ihrem Alltag: Die Zahl derjenigen wächst, die das schnelle und verdichtete Arbeitstempo erschöpft und in die psychische Krise schickt. Während die medizinische Rehabilitation der muskuloskelettalen Krankheitsbilder innerhalb der vergangenen 15 Jahre von 46 auf 37 Prozent zurückging, stiegen die Rehaleistungen für Psychische Erkrankungen von 9 auf 14 Prozent an. Patienten nehmen heute keinen Umweg mehr und verschleiern die Depression als Rückenschmerz. Prof. Uwe Koch-Gromus, Dekan der Medizinischen

Universität Hamburg, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Rehabilitationswissenschaft und ebenfalls Plenarreferent beim Reha-Kolloquium, spricht von einer Jahresprävalenz für psychische Erkrankungen von ca. 30 Prozent. Das heißt: Etwa jedem Drittem droht, im Laufe eines Jahres an einer psychischen Belastung zu leiden.

Was kann Reha künftigen Beschleunigungsschüben entgegensetzen? Die Rehabilitationswissenschaft sucht nach Konzepten, mit denen sich eine Balance zwischen Dauereinsatz im „Hamsterrad“ und Vollbremsung aus Erschöpfung wiederherstellen lässt. Wo müssen bestehende Konzepte überarbeitet und wo neue entwickelt werden, damit Reha nachhaltiger wird? Ein Gewinn ist es, dass die Gemeinschaft der Reha-Wissenschaftler traditionell interdisziplinär geprägt ist. An Austausch und Forschung beteiligen sich Fachärzte unterschiedlicher Disziplinen ebenso wie Psychologen, Sportwissenschaftler, Soziologen, Krankenhausmanager, Verwaltungsfachleute und Politiker. Der Blick über den Tellerrand des eigenen Fachs gehört so zu den jahrelang geübten Selbstverständlichkeiten der Rehaszene. Dies lässt auch die Zahl der Ansatzpunkte für mögliche Interventionen über das rein Medizinische hinaus wachsen.

Rehabilitation setzt auf individuelles Training und Kommunikation

Da ist zuallererst der betroffene Patient selbst. In der Reha erhält er oft einen wichtigen Impuls, seinen Lebensstil zu ändern. Reha-Psychologen erforschen aktuell, wie es Betroffenen gelingt, die erlernte Entspannungstechnik oder die gesteigerte körperliche Aktivität in ihren Alltag zu integrieren. Zunehmend wird dabei die moderne Kommunikationstechnik genutzt wie beispielsweise bei „FaBA“ (Förderung eines aktiven Bewegungs-Alltags), einem Forschungsprojekt der Freien Universität Berlin und der Deutschen Rentenversicherung Bund. Therapeuten erinnern ehemalige Reha-Patienten in mehreren Telefonkontakten an deren Ziele, die diese zuvor selbst in einem Computer-Programm hinterlegt haben. Erste Ergebnisse belegen, dass das Konzept wirkt. „Der sonst beobachtbare Abfall der Aktivität der Patienten kann deutlich abgepuffert werden“, sagt Lena Fleig, Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FU Berlin.

Was ist strukturell zu ändern? Zum Beispiel an der Schnittstelle zwischen Rehaklinik und Arbeitsplatz? Das Forschungsteam um den Soziologen Jochen Heuer vom Institut für Rehabilitationsforschung Norderney untersucht derzeit, wie das berufliche Anforderungsprofil intensiver in die Rehaplanung einzubeziehen ist. In einem ersten Schritt wurden Versicherte, Betriebsärzte, Betriebsräte sowie weitere Experten befragt, wie die Zusammenarbeit zwischen Rehaklinik und Betrieb zu verbessern ist. Die daraus resultierenden Lösungsideen – wie etwa ein detaillierter Fragebogen zur Arbeitsplatzbeschreibung, die systematische Einbeziehung von Betriebsärzten sowie verbesserte Entlassberichte – werden aktuell in der Praxis getestet und evaluiert.

Dass sich Rehamaßnahmen rechnen, ist schon lang belegt: Jeder Euro, der in die Reha investiert wird, so Direktor Reimann, kehrt um das Fünffache gesteigert wieder ins System zurück. Zum Beispiel durch länger gezahlte Sozialversicherungsbeiträge, da die Rehabilitanden wieder in ihren Betrieb zurücklehren können. Wie gut aber ist die Reha gerüstet auf die zentrale Herausforderung der Zukunft? Auf die steigende Zahl an psychischen Erkrankungen? Nahezu jeder zweite Patient, den Dr. Dieter Olbrich, Ärztlicher Direktor des Rehabilitationszentrums Bad Salzuflen, in seiner Klinik aufnimmt, ist bereits seit mehr als drei Monaten arbeitsunfähig. Die psychische Krise hat sich dann längst tief in den persönlichen Alltag gefressen und gilt medizinisch als chronifiziert. Die Rehabilitation wird dann zur Chance, das eigene „Hamsterrad“ endlich zu verlangsamen und am Geschehen wieder teilzuhaben. Der Weg zurück an einen Arbeitsplatz ist dabei eines der wichtigsten Ziele – für den Patienten, aber auch für die Rehabilitation. In der Mehrzahl der Fälle gelingt das auch: Über 2/3 der Patienten (68 Prozent) zahlen laut aktuellen Statistiken in den zwei Jahren nach einer psychsomatischen Rehabilitation wieder lückenlos Beiträge, weitere 16 Prozent haben lückenhafte Beiträge und nur 14 Prozent beziehen Erwerbsminderungsrente.

Von der Rehabilitation bis hin zur Prävention

Wie kann diese Bilanz noch besser werden? Experten wie Dr. Dieter Olbrich, Ärztlicher Direktor des Rehabilitationszentrums Bad Salzuflen, setzen da auf Prävention. Je frühzeitiger die Risiken erkannt werden und entsprechend gegengesteuert wird, desto besser für alle Beteiligten. Seit 2009 hat die Rentenversicherung auch den gesetzlichen Auftrag präventive Angebote im Sinne einer „Risiko-Prävention“ aufzubauen. Gerade im Bereich der psychischen Erkrankungen scheint ein frühes Risiko-Screening erfolgreich zu sein wie ein Modellprojekt des Rehazentrums in Bad Salzuflen belegt. Unter dem Titel „GUSI®“, ausgeschrieben „Gesundheitsförderung und Selbstregulation durch individuelle Zielanalyse“, trainieren Betroffene, Belastung und Entspannung in ihrem Alltag besser aus zu balancieren, ihre eigenen Ressourcen stärker zu nutzen und ausgleichend Sport zu treiben. Das Besondere: Das Rehazentrum bietet das Programm nicht bereits Erkrankten, sondern ausschließlich gefährdeten Berufsgruppen an. Sie wurden in Kooperationen mit Betrieben im nahen Umfeld ausgewählt und für das gesundheitliche Programm gewonnen. Chefarzt Olbrich ist überzeugt: „Präventive Angebote verhindern, dass Betroffene mit psychischen Belastungen frühzeitig pathologisiert werden und aus subklinischen Befindlichkeitsstörungen sofort Krankheitsdiagnosen werden.“

Um „Arbeit und menschliche Würde“ ging es zum Abschluss des Reha-Kolloquiums. Professor Oskar Negt, renommierter Philosoph aus Hannover, verband in seiner Rede, das Tätigsein des Menschen mit dem Streben nach Autonomie. Zu arbeiten und erwerbsfähig zu sein, ist für Negt ein Teil der Würde des Menschen, die letztlich unantastbar ist. In diesem Sinne hilft Rehabilitation, die eigene Würde wieder wahrzunehmen. Sie unterstützt den Einzelnen dabei, den eigenen Takt wiederzufinden, sein Leben zu gestalten und sich mit seinem eigenem Rhythmus am Weltgetriebe zu beteiligen.

(Quelle: Susanne Werner,  Kommunikation I Gesundheit I Netzwerk,  Berlin)