17.01.2024

Diskussion um den Begriff „geistige Behinderung“

Menschen mit geistigen Behinderungen und Betroffenenverbände lehnen den Begriff ab und sprechen eher von „Lernschwierigkeiten“. Das Deutsche Institut für Menschenrechte empfiehlt die Formulierung „intellektuelle Beeinträchtigung“; verstärkt wird auch von „kognitiven Beeinträchtigungen“ gesprochen. Warum wird der Begriff „geistige Behinderung“ kontrovers diskutiert?

Die Aktion Mensch erläutert in ihrem Online-Familienratgeber: „Der Begriff ist umstritten. Viele betroffene Menschen sagen eher, dass sie Lernschwierigkeiten haben. Denn ihnen fehlen lediglich bestimmte Kompetenzen und ihre Entwicklung ist verlangsamt. Ihr Geist ist dabei nicht behindert.“ Durch den Begriff „geistige Behinderung“ entstehe der Eindruck, der gesamte Mensch sei betroffen, während nur einzelne Fähigkeiten und Kompetenzen fehlten. Auch die Begriffe „Behinderung“ und „behindert“ werden oft abgelehnt, da sie v. a. in der Jugendsprache oft beleidigend verwendet werden.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschreibt eine geistige Behinderung als bedeutsam „verringerte Fähigkeit, neue oder komplexe Informationen zu verstehen und neue Fähigkeiten zu erlernen und anzuwenden“. Von einer Intelligenzminderung sprechen Fachleute bei einem Intelligenzquotienten unter 70. Die betroffenen Menschen sind in ihren Fähigkeiten und ihrer Selbstständigkeit eingeschränkt. Je nach Ausprägung variiere die benötigte Unterstützung von Hilfen im Alltag bis hin zur Rundum-Betreuung, so die Aktion Mensch.

Dr. Maria del Pilar Andrino vom Franz Sales Haus, einer Einrichtung für Menschen mit geistiger, psychischer oder mehrfacher Behinderung in Essen, schrieb in einem Gastbeitrag in den Kobinet-Nachrichten: „Das Grundproblem der Medizinwelt ist, dass von der ‚durchschnittlichen Gesellschaftsnorm‘ abweichende Feststellungen als pathologisch / krankhaft betitelt werden. Von der Körpergröße (Klein- und Hochwuchs) bis hin zur Intelligenz (Minder- und Hochbegabung) werden Beobachtungen beschrieben, identifiziert und einer Diagnose (Pathologie) zugeordnet.“ Seit den 60er Jahren werde der Begriff „geistige Behinderung“ genutzt. „Konkret ist festzuhalten, dass die Entwicklung im Sinne individueller Lernprozesse in eigenen Lebenszeitfenstern keine Erkrankung / Pathologie darstellt. Es braucht vielmehr ein inklusives Bildungssystem, welches in der Lage ist, diese Lernprozesse zu unterstützen,“ so die Ärztin.

In Deutschland leben rund 320.000 Personen mit intellektuellen Beeinträchtigungen; die Ursachen und Symptome sind individuell sehr unterschiedlich. Neben den angeborenen, oft auf einen Gendefekt zurückgehenden Beeinträchtigungen gibt es die erworbenen Behinderungen, etwa durch Geburtskomplikationen oder den Drogenkonsum der Mutter. Für diese Kinder spielt die Frühförderung eine große Rolle.

Was bedeutet „Geist" und „geistig"?

Problematisch in der Diskussion kann auch sein, dass die Begriffe „Geist“ und „geistig“ uneinheitlich verwendet und verstanden werden. „Geist“ steht allgemeinsprachlich für die nicht-körperlichen intellektuellen und mentalen Fähigkeiten eines Menschen, für sein Denken, Wahrnehmen, Lernen, Gedächtnis, logisches Schlussfolgern und seine Aufmerksamkeit. Im religiösen, spirituellen oder philosophischen Kontext steht „Geist“ aber auch für die persönliche Verbindung mit einem Gott, für das Nicht-Körperliche, Seelische oder für eine höhere, immaterielle Ebene des Bewusstseins.

Informationen

zu kognitiven Beeinträchtigungen bei Kindern bietet u. a. die Familienratgeber-Website der Aktion Mensch oder die Lebenshilfe-Website

(Quellen: Aktion Mensch e. V., Stiftung MyHandycap / EnableMe Foundation, Deutsches Institut für Menschenrechte, Kobinet-Nachrichten)