25.07.2021

Fachgespräch „Schulische Teilhabe, Bildung und Erziehung von Schülerinnen und Schülern mit psychischen Erkrankungen“

Am 17. Juni 2021 trafen sich die Referentinnen und Referenten für Inklusion/ Sonderpädagogik der Kulturministerkonferenz (KMK), Vertreterinnen und Vertreter des Verbands Sonderpädagogik (vds) und der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) zu einem Online-Fachgespräch. Fragestellungen waren u. a., wie es gelingen kann, die Beschulung für Kinder mit schweren und schwersten psychischen und psychiatrischen Erkrankungen in der Schule zu ermöglichen. Für das interne Fachgespräch konnten verschiedene Referenten gewonnen werden, die offen Einblick in ihre Forschungs- und Praxiserfahrungen gaben. Die abschließende Diskussion zeigte Lösungen für die Weiterentwicklung der schulischen Teilhabe von Schülerinnen und Schülern mit psychischen Erkrankungen und die Bedeutung der Multiprofessionalität für die Schule auf.

Kinder und Jugendliche, die mit Behinderungen und einer zusätzlichen psychischen Erkrankung (Doppeldiagnose) leben, benötigen eine gesicherte Bildungsteilnahme an der Schule bzw. Förderschule oder der „Schule für Kranke“ zum Beispiel an psychiatrischen Einrichtungen. Wie sich die Situation aus der Sicht verschiedener Disziplinen darstellt und wie die multiprofessionelle und interdisziplinäre Zusammenarbeit gestaltet werden kann, wurde im Rahmen eines Fachgesprächs diskutiert. Eingeleitet wurde die Veranstaltung mit einer Begrüßung und kurzen Vorstellung der Programmpunkte durch Dr. Angela Ehlers, Bundesvorsitzende des vds, die zusammen mit Manfred Weiser, Leiter des Berufsbildungswerks Mosbach-Heidelberg und Leiter des DVfR-Fachausschusses „Schule, Bildung und Erziehung“, die Moderation durch das Programm übernahmen. Dagmar Lorenzen, KMK, und Dr. Matthias Schmidt-Ohlemann, Vorsitzender der DVfR, führten in die Thematik ein und verdeutlichten die Dringlichkeit einer inhaltlichen Auseinandersetzung zur Förderung der Teilhabe dieser Personengruppe, auch unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die psychische Gesundheit von Schülerinnen und Schülern.

Den Auftakt machte Prof. Dr. Gerd Schulte-Körne, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität München, mit einführenden Darstellungen zur Datenlage bei psychischen Belastungen und Störungen bei Kindern und Jugendlichen und deren Entstehungsfaktoren (wie beispielsweise Mobbing, Belastungen in der Schule) auf Basis verschiedener Studien. Er unterstrich, dass die psychischen Belastungen von Schülerinnen und Schülern möglichst früh erkannt und ernst genommen werden sollten, um eine optimale Unterstützung zu ermöglichen und depressive Störungen zu vermeiden. Anhand der hyperkinetischen Störung, einer häufigen psychischen Erkrankung mit einem frühen Krankheitsbeginn, zeigte er Voraussetzungen und Ansätze einer schulbasierten Prävention und Intervention auf. Prof. Dr. Schulte-Körne empfahl Schulen, die Kooperation mit psychosozialen Netzwerken einzugehen und die Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften zu fördern. Abschließend wurde eine Lernplattform für schulisches Fachpersonal aus der eigenen Forschung vorgestellt.

Es schloss sich ein Beitrag aus der Praxis an, der Einblick in die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Klinik und einem sonderpädagogischen Beratungs- und Bildungszentrum (SBBZ, ehemals Schule für Kranke / Klinikschule) gab. Dr. Karsten Rudolf, Ärztlicher Direktor der Diakonie-Klinik Mosbach, stellte die klinischen Realitäten der Schülerinnen und Schüler seiner Klinik vor sowie die Besonderheiten des Klinikschulkonzeptes, das auf Interdisziplinarität und Integration fußt. Baulich sind Klinik und Schule an einem Ort (stationäres Setting). Der Unterricht ist in der Struktur der Diakonie-Klinik Mosbach verankert. Obwohl die Schule Bestandteil der Tages- und Wochenstruktur der Schülerinnen und Schüler ist, gilt der Leitsatz „die Schule kommt zu Dir“. Voraussetzung für Veränderungsprozesse bei einer Bildungsteilnahme, so Prof. Rudolf, sei die Annahme, dass Schule ein zentraler Lebensraum von Schülerinnen und Schülern ist. Ein optimales Lernumfeld sei daher möglichst nach dem Motto „Schule muss ein schöner Ort sein“ zu bieten, damit Schülerinnen und Schüler ihre Beziehungserfahrungen neu und positiv erleben können. Dr. Rudolf sprach sich dafür aus, (vor-)schulische Konzepte flächendeckend neu zu gestalten. Dabei sollte neben den interdisziplinären Konzepten die Ausstattung, insbesondere für eine digitale Schule, bedacht werden.

Prof. Dr. Roland Stein von der Universität Würzburg führte in die Datenlage und das Problemfeld aus sonderpädagogischer Perspektive ein. Die Erkenntnisse einer psychischen Belastung in Breite und Tiefe, die inhaltliche Spannweite, die Bedeutsamkeit des Themas an allen Schulformen sowie die Erkenntnisse der Prävention und Früherkennung verweisen auf ein Handlungsfeld der Sonderpädagogik und auf besondere pädagogische Unterstützungsmaßnahmen. Für die Professionalität und Professionalisierung der Sonderpädagogik sei Fachexpertise im Kontext psychischer Belastungen bedeutsam. Prof. Stein informierte in diesem Zusammenhang über einen qualifizierenden Lehramtsstudiengang der Sonderpädagogik an der Universität Würzburg, der u. a. Fachinhalte der Kinder- und Jugendpsychiatrie vermittelt.

Schließlich erhielten die Teilnehmenden von Prof. Dr. Marcel Romanos, Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (KJPPP) am Universitätsklinikum Würzburg und Leiter des Deutschen Zentrums für Präventionsforschung Psychische Gesundheit (DZPP), einen Einblick in die Arbeit einer Fachabteilung seiner Klinik. Sehr spezifische, herausfordernde Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderungen und psychischen Störungen verdeutlichten die hohen Anforderungen an die Versorgungslandschaft und die höchst individuelle Gestaltung des Klinikalltags. Prof. Romanos betonte die frühzeitige Diagnostik, auch vor dem Hintergrund, dass die Behinderung die psychosomatische Symptomatik überlagern kann. Er sehe die Aus- und Fortbildung von Lehrpersonal als große Chance an, um Forschungsergebnisse in die Schule zu bringen. Seinen Beitrag rundete er mit der Vorstellung einer App für die Schule ab.

Im letzten Programmpunkt „Nachgehakt“ formulierten Mechthild Ziegler, LERNEN FÖRDERN-Bundesverband, Hubert Killer, Bayrisches Kultusministerium, Stephan Prändl, Klinik Waldburg-Zeil und die Referenten Prof. Dr. Gerd Schulte-Körne, Dr. Karsten Rudolf, Prof. Dr. Roland Stein sowie Prof. Dr. Marcel Romanos als Expertinnen und Experten Handlungsaufträge an die Teilnehmenden und die Veranstalter dieser Fachtagung als auch an die Gesellschaft und Politik allgemein. Es wurde u. a. angeregt, die Akteure der verschiedenen Fachdisziplinen, der Schulen sowie der Leistungsträger, aber auch Eltern zur Weiterentwicklung schulischer Teilhabe bei (schweren) psychischen Beeinträchtigungen zusammenzubringen und mögliche Vorbehalte in Schulsystemen aufzubrechen. Weiter sei das Zusammenwirken der verschiedenen Subsysteme sowie der Versorgungslandschaft konzeptionell zu verdeutlichen. Die Erprobung von Modellprojekten sollte vorangebracht werden.

Dr. Angela Ehlers fasste als Ergebnis zusammen, dass heute ein neues Netzwerk für die Bildungsteilhabe von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen entstanden sei. Die Zusammenarbeit und Aus- und Fortbildung der Professionen müsse weiter gestärkt werden, da Inklusion mehr Multiprofessionalität brauche. Sie verwies zudem auf den Pakt für Inklusion.

Gemeinsam schlossen Dr. Angela Ehlers und Manfred Weiser mit einem Dank an die Vortragenden als auch an alle teilnehmenden Referentinnen und Referenten für Inklusion/ Sonderpädagogik der Kulturministerkonferenz (KMK) das Fachgespräch. Die Diskussionen sollen auf weiteren Veranstaltungen vertieft und fortgesetzt werden.

Downloads & Informationen

Programm

Vorträge der Referenten

Zur Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit psychiatrischen Erkrankungen – pädagogisch-medizinischer Fokus mit Nachfragen, Prof. Dr. Gerd Schulte-Körne, Klinikum der Universität München

Schulische Teilhabe, Bildung und Erziehung von Schülerinnen und Schülern mit psychischen Erkrankungen, Dr. Karsten Rudolf, Johannes-Diakonie Schwarzach

Zur Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit psychiatrischen Erkrankungen – sonderpädagogische Perspektiven mit Nachfragen, Prof. Dr. Roland Stein, Universität Würzburg

Links

Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (KJPPP) am Universitätsklinikum Würzburg;
Deutsches Zentrum für Präventionsforschung und Psychische Gesundheit an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Leiter Prof. Dr. Marcel Romanos,
Beispiel: Projekt DUDE – Du und Deine Emotionen

Weitere Veranstaltungen zu diesem Themenfeld

Interdisziplinäre Fachtagung "Psychisch krank in der Schule: Wie gelingen Bildung und Teilhabe?" (16.10.2018)

Bundeskongress des vds „Inklusive Bildung braucht sonderpädagogische Professionalität“ (28.-30.04.2022)

Ein weiteres Fachgespräch ist in der Planung für 2023.

Weitere Materialien und Informationen

Pakt für Inklusion 2021 in Bildung und Digitalisierung

KMK-Empfehlung zum sonderpädagogischen Schwerpunkt Geistige Entwicklung (in der Überarbeitung)