15.08.2017

„Sehen im Alter“ – Bericht zur Fachtagung des DBSV

Mit dem Schwerpunkt „Prävention: Gemeinsam vorausschauend handeln“ fand am 7./8. Juli 2017 in Bonn die Fachtagung „Sehen im Alter“ statt. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV) hatte in Kooperation mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (BAGSO) und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) dazu eingeladen.

Zu den häufigsten Ursachen von Sehbehinderung und Blindheit gehören die altersabhängige Makula-Degeneration (AMD), der Grüne Star (Glaukom) sowie die Linsentrübung, der Graue Star, mit mehr als 9,8 Millionen Betroffenen in Deutschland. Viele Augenerkrankungen machen sich jedoch erst bemerkbar, wenn ein Großteil der Sehkraft bereits unwiederbringlich verloren gegangen ist. „Meist gilt: Je früher mit der Behandlung begonnen wird, desto besser ist die Prognose“, so Professor Dr. med. Focke Ziemssen, stellvertretender Direktor der Augenklinik der Universität Tübingen. Nach seiner Begrüßung und Einführung folgten weitere Grußworte, u. a. der Präsidentin des DBSV, Renate Reymann und von Franz Müntefering in seiner Funktion als Vorsitzender der BAGSO. „Senioren-Organisationen sollen sich des Themas ‚Sehen im Alter‘ stärker annehmen und flächendeckend über Vorsorge- und Versorgungsmöglichkeiten aufklären“, forderte Müntefering.

Unterstützt von der Aktion Mensch knüpfte die Veranstaltung an die erste Fachtagung „Sehen im Alter: Neue Herausforderungen – gemeinsame Antworten“ im Jahr 2014 an. Aus ihr war das Aktionsbündnis „Sehen im Alter“ hervorgegangen. Ziel des Bündnisses ist eine interdisziplinäre und überregionale Vernetzung der Aktivitäten im Bereich „Sehen im Alter“, um gemeinsam Lösungsansätze und Handlungsempfehlungen zur Verhinderung von vermeidbarem Sehverlust und zur Optimierung der Unterstützung bei Sehverlust zu entwickeln.

Sehbeeinträchtigung und Selbstständigkeit

Welche Bedeutung eine Einschränkung der Sehfähigkeit im Rahmen der Bedarfsfeststellung hat, erläutere Herbert Mauel vom Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste e.V. Die Bestimmung eines Pflegegrades sei ein kompliziertes Verfahren, das vom Grundsatz her wesentlich von früheren Einstufungen nach Minutenwerten in der Pflege abweiche. Entscheidend sei nicht die Einschränkung selbst, sondern der benötigte Hilfebedarf: „Wer gelernt hat, seine Einschränkung zu kompensieren, bekommt in der Regel keine Hilfe“, so Mauel. Man müsse Sachverständigen daher unbedingt vermitteln, was aus einer Sehbehinderung für die Selbstständigkeit resultiere. Häufig sei aber gerade das Gegenteil zu beobachten: „Insbesondere ältere Menschen wollen oft zeigen, was sie alles können und wenden dann bei dem Besuch eines Sachverständigen besondere Kräfte auf, die das Bild verzerren.“

Die ophthalmologische Versorgung in stationären Einrichtungen

Über die Versorgungssituation in Senioreneinrichtungen sprach Prof. Dr. Robert P. Finger von der Augenklinik des Universitätsklinikums Bonn. Etwa 50–70% der Bewohnerinnen und Bewohner seien von Veränderungen der Sehfähigkeit betroffen. Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung (HPG) sind Kooperationsverträge der Pflegeeinrichtungen mit Haus- und Fachärzten zur medizinischen Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner nicht mehr nur freiwillig, sondern sie „sollen“ abgeschlossen werden (SGB V § 119b – Ambulante Behandlung in stationären Pflegeeinrichtungen). Während dies in der hausärztlichen Versorgung weitgehend umgesetzt sei, fehlten in der augenärztlichen Versorgung derzeit noch konkrete flächendeckende Schritte, erläuterte Finger. Stattdessen stelle der Transport in eine geeignete Augenarztpraxis eine große Hürde für eine gute Versorgung dar. Es bedürfe daher neuer Versorgungsmodelle.

In der anschließenden moderierten Diskussion mit Expertinnen und Experten verschiedener Disziplinen ging Prof. Dr. Bernd Bertram vom Berufsverband der Augenärzte Deutschlands e.V.  (BVA) auf den Aspekt der aufsuchenden Versorgung noch einmal ein. Der regelhafte Besuch von Pflegeeinrichtungen durch Augenärzte sei derzeit aus Sicht des BVA keine Perspektive, zumal nur wenige Behandlungsmöglichkeiten in der Umgebung einer Pflegeeinrichtung umsetzbar seien. Zudem gehe jeder Zweite ab 60 Jahren einmal im Jahr zum Augenarzt. Für Seniorinnen und Senioren aus stationären Einrichtungen, so Bertram, sei beispielsweise eine spezielle Sprechstunde in der örtlichen Augenarztpraxis denkbar. Zudem sprach er sich dafür aus, die Augenheilkunde stärker in die Pflegeausbildung einzubinden.

Was wollen und brauchen Betroffene?

Um welche Teilhabeziele es bei einer ophthalmologischen Versorgung genau gehe, sei weitgehend unerforscht, merkte Andreas Bethke, Geschäftsführer des DBSV, an. Kommunale wie überregionale Prozesse müssten das Sehen im Alter einschließen; das betreffe z.B. auch Applikationen für Mobilfunkgeräte, die so zu konzipieren seien, dass sie auch von Menschen mit einer Sehbehinderung bedient werden können. In der Tat arbeiteten die relevanten Forschungsprojekte oft nebeneinander her, ergänzte Dr. Ursula Hahn, OcuNet. Hier wäre eine bessere Vernetzung wichtig. Die Stärkung der Versorgungsforschung sei als gesundheitspolitisches Anliegen zu etablieren, so auch Prof. Dr. Ziemssen.

Gegenüber den Betroffenen sei es wichtig, selbst bei ausgeschöpften Therapiemöglichkeiten Perspektiven aufzuzeigen, erklärte Bethke und erhielt dafür spontanen Applaus. Angelika Ostrowski vom DBSV betonte den Stellenwert einer Beratung vor Ort: „Es ist leichter, sich Hilfe zu holen, wenn man weiß, wo man hinmuss.“ Die ophthalmologische Rehabilitation werde, anders als andere Rehabilitationsbedarfe, in Deutschland nicht gesteuert. Dabei beschreibe Art. 25 der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) ein Recht auf Früherkennung, das es umzusetzen gelte, ergänzte Andreas Bethke. – Er habe aus der Debatte vor allem die Notwendigkeit von Flexibilität und Kreativität herausgehört, um Lösungen zu finden und auszuprobieren.

Durch die anschließende Posterpräsentation führte Werner Lechtenfeld. Vorgestellt wurden zahlreiche der derzeit 118 Projekte und Initiativen des Aktionsbündnisses „Sehen im Alter“, von der Beratung über die Versorgungsforschung bis hin zu Projekten aus dem Bereich der Rehabilitation. Bei einem Get-Toghether hatten Teilnehmerinnen und Teilnehmer Gelegenheit zum vertiefenden Austausch mit den Repäsentanten der vielfältigen Projekte.

Impulse für eine bessere Versorgung

Am darauffolgenden Tag lieferten die Referenten zunächst Impulse für eine bessere Versorgung: stärkere Leuchtmittel und Blendfreiheit als wesentliche Aspekte der Low Vision Rehabilitation, die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit aller Player bei verbesserter Datenlage oder die Einbeziehung weiterer Sinnesbeeinträchtigungen sowie psychosozialer Aspekte in die Erarbeitung individueller Lösungen. „Wenn Nachbarn denken, da grüßt einer nicht mehr, obwohl dahinter ein Sehverlust steht, ist das eine von vielen Belastungssituationen, die den Alltag bestimmen und dazu führen können, dass Aktivitäten nachlassen“, so Alexander Seifert vom Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich.

„Neue Wege denken, Lösungen erarbeiten“

Mit diesen Vorsätzen schlossen sich am Vormittag Interessierte Teilnehmerinnen und Teilnehmer in den folgenden fünf Workshops zusammen:

  1. Antennen auf Empfang – Hinweise auf Sehprobleme Hier wurde u.a. diskutiert, wer zukünftig vorrangig geschult werden müsse, um Sehproblemen adäquat zu begegnen. Neben Haus- und Augenärzten seien das insbesondere Personen in der Pflege, deren Schulung fest implementiert und einkalkuliert werden müsse, so das Fazit.
  2. Mobilität braucht mehr als „nur“ den Führerschein Auf Alternativen zum Fortbewegungsmittel Auto und die notwendigen Voraussetzungen bei Sehbeeinträchtigungen fokussierte sich die zweite Arbeitsgruppe. Wenn das Autofahren aufgrund von Sehbeeinträchtigungen nicht länger möglich sei und Betroffene einen Langstock benötigen, bräuchten sie auch ein Orientierungs- und Mobilitätstraining (O&M) im ÖPNV bzw. in ihrer Umgebung.
  3. Lebenswelten barrierefrei gestalten Zu einer barrierefreien Gestaltung zählten die Workshop-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer nicht nur eine Optimierung der Lichtverhältnisse, der Farben, und Kontraste, sondern ggf. auch gute akustische Signale. Viele Hilfen ließen sich ohne großen finanziellen Aufwand umsetzen.
  4. Neue Ansätze für eine optimierte Versorgung Zu den im Rahmen dieses Workshops vorgestellten Projekten gehörte der „Augen-Bus“ der Blinden- und Sehbehinderten Stiftung Südbaden in Freiburg. Hier transportiert ein Kleinbus eine fahrbare augenärztliche Untersuchungseinrichtung in schlechter versorgte ländliche Gebiete. Ziel ist es, die teilnehmenden Ortschaften zweimal im Jahr anzufahren. Die Untersuchungen und Beratungen finden in barrierefreien Räumlichkeiten der teilnehmenden Ortschaften statt. Eine mobile, wohnortsnahe augenärztliche und sozialmedizinische Versorgung wäre ein Novum im deutschen Gesundheitswesen.
  5. Aktivität, Selbstständigkeit und Teilhabe nach Sehverlust sichern Dass Rehabilitation eine komplexe Leistung ist, zu der im Bereich der Ophthalmologie entsprechende Angebote derzeit weitgehend fehlen, das war die Grundannahme in Workshop 4. Zwei Wege seinen denkbar, um komplexe Reha-Angebote bei starken Sehbeeinträchtigungen zu schaffen:
  • die Integration von Elementen wie auch Personal aus der Low Vision Rehabilitation/dem Sehbehinderten-Bereich in die mobile geriatrische Rehabilitation;
  • die Schaffung eigenständiger Angebote der medizinischen Rehabilitation bei Sehverlust.      

    Bestehende Angebote, wie beispielsweise der Masserberger Klinik in Thüringen, könnten so eine Ergänzung erfahren. Eine mobile geriatrische Reha erlaube beispielsweise auch ein O&M in der heimischen Umgebung. Zur Vernetzung, so Christiane Möller, Rechtsreferentin beim DBSV, sei eine Kooperation mit dem Fachausschuss „Geriatrische Rehabilitation“ der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) geplant.

Fazit und Ausblick

In der Podiumsdiskussion „Nachlassende Sehkraft braucht wachsende Aufmerksamkeit und Innovation“ griffen die Expertinnen und Experten die Schlaglichter aus den Workshops noch einmal auf, um zu einem Fazit und Ausblick für die Zukunft zu gelangen. Vertreten war hier auch Dr. Günther E. Buchholz, stellvertretender Vorsitzender der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV). Zahlreiche Kooperationsverträge zwischen Pflegeeinrichtungen und Zahnärzten sorgen inzwischen für eine verbesserte Situation in den Einrichtungen. Dafür seien in der Vergangenheit „dicke Bretter gebohrt“ worden, so Buchholz.

Diese dicken Bretter auch in der augenärztlichen Versorgung zu durchbohren, nahm sich das Aktionsbündnis „Sehen im Alter“ im Rahmen seines Aktionsplans für die kommenden fünf Jahre vor.

Der Aktionsplan 2022

Die ausgeschriebenen Ziele und Forderungen des Aktionsplans 2022:

  1. Das Sehen im Blick haben – Qualität in der Pflege verbessern
    Das Aktionsbündnis fordert Fortschritte der augenärztlichen Versorgung in Alten- und Pflegeeinrichtungen. Der Bedarf hierfür sei durch Projekte und Studien belegt. U.a. soll es Mindeststandards der Barrierefreiheit sowie Schulungsangebote für Mitarbeiter/innen geben.
  2. Versorgungsforschung stärken
    Um Unter- und Fehlversorgung sichtbar zu machen, sollen Forschungsprojekte gezielt angestoßen und unterstützt werden. Einen Überblick liefert die „Landkarte der Versorgungsforschung“.
  3. Aufklärungs- bzw. Präventions- Kampagnen
    Das Wissen um Erkrankungen und Risikofaktoren ermögliche sinnvolle Prophylaxe und rechtzeitige Behandlung. Deshalb spricht sich das Aktionsbündnis für öffentlichkeitswirksame Kampagnen zum Erhalt der Augengesundheit aus. Dafür würde die Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung vertieft und weitere Partner gewonnen.
  4. Aktionsplan Rehabilitation und Teilhabe
    Sehverlust wirke sich auf alle Lebensbereiche aus und beeinträchtige Alltagsaktivitäten, vor allem in den Bereichen Informationsaufnahme, Kommunikation, Orientierung und Mobilität, heißt es in dem Aktionsplan mit Hinweis auf Folgeerkrankungen, Verlust der Selbstständigkeit, soziale Isolation oder einem Erhöhten Risiko von Pflegebedürftigkeit. Es fehlten spezifische Unterstützungsdienste und -leistungen für sehbeeinträchtigte Senioren.

    Deshalb müssten bereits vorhandene Angebote der (mobilen) geriatrischen Rehabilitation um den Aspekt der speziellen Förderung visuell beeinträchtigter Menschen ergänzt werden. Eine medizinisch ausgerichtete ganzheitliche Rehabilitation nach Sehverlust müsse entwickelt und etabliert werden.

    Dafür unterstütze das Aktionsbündnis wissenschaftlich begleitete Modellprojekte und die Zusammenarbeit mit der DVfR und der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR).

  5. Netzwerke und Zusammenarbeit fördern
    Es würden weitere regionale Bündnisse zu „Sehen im Alter" angestrebt, um die multidisziplinäre Zusammenarbeit in den Ländern fortzusetzen und den Lebensalltag der betroffenen älteren Menschen wirksam verbessern. So könnten die Barrierefreiheit im Wohnumfeld, in den Einrichtungen des Gesundheitswesens u.a. vorangebracht und spezifische Angebote ebenso wie inklusive Settings entwickelt werden.

Weitere Informationen

Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V.

Sehen im Alter

Aktionsplan 2022

Tagungsbericht 2016