13.04.2023

Hemmt das Elternwahlrecht der Schule inklusive Bildung?

Von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) gibt es eine neue Ausgabe der Schriftenreihe „Eine für alle – Die inklusive Schule für die Demokratie“ mit dem Titel „Inklusion – Bildungspolitik missbraucht Elternwahlrecht“. Das Heft enthält eine kritische Betrachtung des elterlichen Wahlrechts zwischen Regel- oder Förderschule für ihr behindertes Kind und kommt zu dem Fazit: Für den Ausbau eines inklusiven Bildungswesens ist das Wahlrecht hinderlich.

„Jahrzehntelang haben Eltern- und Elterninitiativen gegen die Sonderschulpflicht und für den Schulbesuch von Kindern mit Behinderungen im gemeinsamen Unterricht gekämpft. Ein 'Elternwahlrecht', wie viele Bundesländer es nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention eingeführt haben, mag zunächst gut klingen, hat aber nichts mit der Umsetzung von Inklusion zu tun,“ schreibt die GEW mit Blick auf die Ausarbeitungen der Heftautoren Volker Igstadt und Eva-Maria Thoms. Das Gegenteil sei der Fall. Ein Wahlrecht setze die gleichwertige Ausstattung von allgemeiner Schule und Sonderschule voraus, die aber in keinem Bundesland gegeben sei.

Kritik an Elternwahlrecht

Das Wahl- oder Bestimmungsrecht der Eltern auf Beschulung ihres Kindes im gemeinsamen Unterricht oder in einer Förderschule oder Sondereinrichtung sei untrennbar mit dem Fortbestand des dualen Systems von allgemeinen Schulen und Förder- bzw. Sonderschulen verbunden. Dies sei, so der ehemalige Richter Volker Igstadt, ein Hemmschuh für eine tatsächliche inklusive Bildung. Die UN-BRK sehe ein solches Wahlrecht nicht vor.

Das elterliche Wahlrecht könne die Ziele der UN-BRK sogar gefährden und die Doppelstruktur von Sonder- und Regelschulen festigen. „In den meisten Ländern genießt die inklusive Beschulung zwar Vorrang vor dem Besuch der Sonder- bzw. Förderschule, allerdings wird der Besuch des gemeinsamen Unterrichts zumeist von dem Vorhandensein ausreichender personeller und sachlicher Ressourcen abhängig gemacht,“ so Igstadt.

Für Eva-Maria Thoms vom Kölner Elternverein mittendrin e.V. ist das Elternwahlrecht ohne Gewährleistung und Einklagbarkeit angemessener Unterstützung für Kinder mit Behinderung „eine Schimäre, ein politisches Hirngespinst“. Eine Wahl würde voraussetzten, „dass es mindestens zwei akzeptable Alternativen gibt".

Beim Wunsch nach inklusiver Beschulung gebe es auch häufig eindringliche Ratschläge, dass man seinem behinderten Kind die allgemeine Schule nicht zumuten könne, dass Inklusion nur etwas für „leichte Fälle"' sei und das Kind in der Förderschule mit ihren kleinen Klassen doch viel besser aufgehoben sei.

Hintergrund

Die Rahmenbedingungen an Regelschulen und ihre personellen Ressourcen stehen ganz im Zeichen des Lehrkräftemangels. Die Kultusministerkonferenz prognostiziert, dass bis 2035 mindestens 23.800 Lehrkräfte fehlen.

Auch an den Förderschulen gibt es Kritik, berichtet die GEW mit Blick auf eine neue Studie: Fast 50 Prozent der Schulabgängerinnen und -abgänger ohne Abschluss besuchten Förderschulen, die häufig keinen allgemeinbildenden Abschluss vorsehen. Dies untersuchte der Bildungsforscher Professor Klaus Klemm in der Studie „Jugendliche ohne Hauptschulabschluss – demographische Verknappung und qualifikatorische Vergeudung.“

Auch deshalb muss die Inklusion an den Schulen gemäß der GEW gestärkt werden. „Der gemeinsame Unterricht aller Kinder und Jugendlichen in einem inklusiven Schulsystem muss dringend ausgebaut werden. Dafür müssen die allgemeinbildenden Schulen mehr personelle und materielle Ressourcen erhalten. Wir dürfen nicht weiter tatenlos zusehen, dass so viele junge Menschen die Schule ohne Abschluss verlassen – und damit kaum Berufs- und Lebensperspektiven haben“, unterstreicht Ralf Becker, GEW-Vorstandsmitglied Berufliche Bildung und Weiterbildung.

Vertiefte Informationen

„Inklusion – Bildungspolitik missbraucht Elternwahlrecht“ - Heft 8 vom Februar 2023 der Schriftenreihe „Eine für alle - Die inklusive Schule für die Demokratie“

Anmerkungen der GEW zur Studie „Jugendliche ohne Hauptschulabschluss - demographische Verknappung und qualifikatorische Vergeudung“ von Prof. Klaus Klemm (Hrsg. Bertelsmann-Stiftung) und Download der Studie

(Quelle: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, GEW; Kultusministerkonferenz, Bertelsmann Stiftung)