17.02.2016

Ophthalmologische Grundrehabilitation – Ansprüche an eine medizinische Rehabilitation bei Sehverlust

Der deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. (DBSV) und die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation e.V. (DVfR) luden am 29. Januar 2016 zu der Fachtagung „Ophthalmologische Grundrehabilitation“ nach Bonn ein. Der Name war Programm und Vision zugleich, denn bislang gibt es in Deutschland aus rechtlichen und praktischen Gründen keine geregelte medizinische Rehabilitation nach Sehverlust. Insbesondere fehlt es an einem Gesamtkonzept für die Sicherung der Teilhabe durch angemessene Angebote.

Gemeinsam trugen Veranstalter, Vertreter der Augenmedizin, der Selbsthilfe, der Kostenträger, juristische Experten, Reha-Anbieter, Leistungserbringer und andere Akteure in Vorträgen und Diskussionen wichtige Bausteine zur Entwicklung eines Konzeptes für eine medizinische Rehabilitation nach Sehverlust zusammen.

Rehabilitation als interdisziplinäres Gesamtkonzept

Ein dauerhafter, ggf. über einen längeren Zeitraum entstehender Sehverlust bedeutet für die Betroffenen eine massive Einbuße an Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und Teilhabe. Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) beanstandet daher nicht nur das Fehlen gesetzlich gesicherter Zugangswege zu einer ophthalmologischen Grundrehabilitation, sondern verweist auf einen Mangel an ganzheitlichen Angeboten im Sinne einer grundständigen Rehabilitation nach Sehverlust überhaupt und fordert eine flächendeckende Implementierung: „Mit Blick auf die Zielsetzung des § 26 SGB IX, die Vorgaben in Artikel 25 UN-BRK sowie auf das bio-psycho-soziale Modell der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) ist die Schaffung einer medizinischen Rehabilitation nach Sehverlust notwendig und nachvollziehbar begründbar. Alle relevanten Rehabilitationsträger müssen hier zusammenwirken“ (aus dem tagungsbegleitenden Diskussionspapier des DBSV „Medizinische Grundrehabilitation nach Sehverlust“).

Entsprechend unterstrichen Andreas Bethke, Geschäftsführer DBSV, und Dr. Matthias Schmidt-Ohlemann, Vorsitzender DVfR, einleitend den interdisziplinären Anspruch an eine ophthalmologische Grundrehabilitation. Anschauliche Beispiele aus der Praxis machten deutlich, wann der Zugang zu Rehabilitation nach Sehverlust erschwert bis unmöglich sein kann. Während die berufliche Rehabilitation sowie die Habilitation von Menschen, die von Geburt an blind sind, vergleichsweise gut geregelt scheint, fallen insbesondere Menschen im fortgeschrittenen Alter und solche, bei denen die Wiedereingliederung in den Beruf nicht zu erwarten ist, häufig aus dem gegliederten System der Rehabilitationsleistungen heraus. Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass deren Anzahl mit dem demografischen Wandel noch zunehmen wird

Im Anschluss beschrieb Prof. Dr. Bernd Bertram, 1. Vorsitzender des Bundesverbands der Augenärzte (BVA), die Relevanz eines medizinischen Rehabilitationsangebotes aus Sicht eines behandelnden Augenarztes. Zunächst wies er darauf hin, dass neben Einbußen der Sehschärfe (Visus) häufig auch andere visuelle Funktionen betroffen seien und nannte als beispielhafte Beeinträchtigungen doppelt sehen, übermäßige Blendung, veränderte Farbwahrnehmung oder den Verlust von Kontrasten. Die Sehbeeinträchtigungen könnten zudem schwankend wie intermittierend, auf einem Auge oder beidäugig auftreten. Die Folgen einer gravierenden Sehbeeinträchtigung seien dabei durchaus kontextabhängig. So stelle sich die Situation etwa für Alleinstehende ganz anders dar als für Betroffene, die in einen familiären Rahmen eingebunden seien. Aus Gründen der Praktikabilität plädiere er dennoch für eine Visusfestlegung und das Kriterium der Dauerhaftigkeit als Voraussetzung für eine umfassende Rehabilitation.

In der anschließenden Diskussion wurde betont, dass neben Visuswerten der persönliche Umgang mit einer Sehbehinderung bis hin zur Blindheit sowie auch die Begleitung in dieser Phase den individuellen Bedarf an Hilfen und die zielgerichtete Versorgung prägen. Welche Elemente ihrer Erfahrung nach besonders häufig nachgefragt werden, um in den Alltag zurückzufinden, erläuterten daraufhin Jürgen Nagel, Leiter Abt. RES (Rehabilitationseinrichtung für Blinde und Sehbehinderte) der Deutschen Blindenstudien­anstalt Marburg und Dr. Christine Stamm, Leiterin der Sehbehindertenberatungsstelle Berlin.

U. a. sei der Unterstützungsbedarf an folgenden Leistungen hoch:

  • Hilfsmittelbedarfsfeststellung und -versorgung inklusive der Anleitung im Gebrauch eines Hilfsmittels sowie Erprobungsphase und Nachsorge
  • Gesundheitsfördernde Bewegungsangebote (u. a. zur Verminderung von Gesund­heitsfolgen wie Stürzen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen)
  • Training lebenspraktischer Fähigkeiten (LPF)
  • Training von Mobilität und Orientierung (M+O)
  • psychologische Beratung speziell bei erheblicher Anpassungsstörung
  • Beratung Angehöriger
  • Gruppen- und Erfahrungsaustausch 

Derzeit könnten die Beraterinnen und Berater für unterschiedliche Problemlagen lediglich an separate Anbieter verweisen, die in der Regel nicht vernetzt seien. Es fehle an einer Koordination der verschiedenen Einzelangebote, so Nagel. Die ICF sei dabei der verbindende Ansatz, Evaluation und Qualitätssicherung eingeschlossen.

Mit der Wirkung von Trainings der Orientierung und Mobilität sowie lebenspraktischer Fähigkeiten auf das subjektive Empfinden von Lebensqualität befassen sich zwei qualitative Studien des Instituts für Erziehungswissenschaft der Philipps-Universität Marburg, die Sabine Lauber-Pohle vorstellte. Demnach sei in den Bereichen positives Denken, Aktivität und Kommunikation eine signifikante Verbesserung bei den befragten Senioren nach der Teilnahme an einer Schulung „Orientierung und Mobilität“ zu verzeichnen gewesen. „Selbst die Aussicht auf einen Teilnehmerplatz in einer künftigen Schulung scheint schon eine Perspektive zu schaffen und hat bei unserer Kontrollgruppe zu einer Steigerung der Werte geführt.“ Dennoch lägen die Angaben zur Lebensqualität deutlich unter denen der Gesamtbevölkerung.

Obgleich die ICF als zentrale Basis eines gemeinsamen Teilhabeverständnisses in die Reha-Praxis aus seiner Sicht bislang kaum Eingang gefunden habe, könne ein zukünftiges Angebot den Betroffenen nur durch individuelle Teilhabeziele gerecht werden, griff Prof. Dr. Klaus Rohrschneider von der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft/Universitäts-Augenklinik Heidelberg den Ansatz der ICF wieder auf. Zugleich zeigte er Verständnis für die immer noch medizinisch geprägte Bedarfsermittlung: „In der Augenheilkunde orientiert sich Teilhabe sehr stark an der Funktionsbeeinträchtigung.“ Die Makuladegeneration sei die häufigste Schädigung, gefolgt von Glaukom und durch Diabetes bedingte Sehbehinderungen – Krankheitsbilder, deren Verlauf oftmals über Jahre nicht abgeschlossen sei und insofern auch eine wiederholte Bedarfsüberprüfung erfordere. Als besonderes Problem beschrieb er die fehlende Vernetzung von Augenärzten und Psychologen; die psychologische Betreuung Betroffener sei häufig nicht gewährleistet. „Gerade bei älteren Sehbeeinträchtigten mit langsam zunehmendem Sehverlust besteht eine Versorgungslücke.“

Zugang zu bestehenden Rehabilitationsleistungen nach Sehverlust

„Wir sprechen bei einer Rehabilitationsleistung für Personen bei und nach Sehverlust nicht über die Schaffung eines neuen Anspruchs dem Grunde nach“, stellte Prof. Dr. jur. Felix Welti, Leiter des Fachgebiets Sozial- und Gesundheitsrecht, Recht der Rehabilitation und Behinderung an der Universität Kassel, in seinem Vortrag über die rechtlichen Rahmenbedingungen klar. Sehbehinderte und von Sehbehinderung bedrohte Menschen hätten wie alle anderen einen Anspruch auf bedarfsgerechte medizinische Rehabilitation. „Defizite bestehen in der Realisierung dieses Anspruchs.“ Diese setze voraus, dass Leistungsträger und Leistungserbringer Vereinbarungen über die Bereitstellung und Finanzierung eines bedarfsgerechten Angebots treffen bzw. getroffen haben. Entscheidend für einen Leistungsanspruch sei im Sinne eines modernen Behinderungsbegriffs der individuelle Bedarf, der sich von Funktionsbeeinträchtigungen sowie Kontextfaktoren ableite.

Gegenwärtig kommen für Leistungen der medizinischen Rehabilitation folgende Träger in Betracht:

  • die gesetzliche Krankenversicherung
  • die gesetzliche Unfallversicherung
  • die gesetzliche Rentenversicherung
  • die Träger der Kinder- und Jugendhilfe
  • die Träger der Sozialhilfe
  • die Träger der sozialen Entschädigung (Versorgungsämter)

Die Trägerzuständigkeit richte sich nach der Ursache der Behinderung, nach dem Versicherungsstatus und der Bedürftigkeit, so Welti. Insbesondere für Betroffene vor und nach der Erwerbsphase sei die gesetzliche Krankenkasse (SGB V) Trägerin der medizinischen Rehabilitation. Entscheidend sei dabei u.a. die Abgrenzung zwischen medizinischer Rehabilitation und den Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft: „Für die medizinische Rehabilitation gibt es fast immer einen Träger, der unabhängig von Einkommen und Vermögen leistet, für die soziale Rehabilitation und Teilhabe hingegen nicht.“

Bei bestehender Rechtslage könne eine medizinische Rehabilitation verankert werden, indem eine den rechtlichen Anforderungen entsprechende ambulante oder stationäre Rehabilitationseinrichtung einen Versorgungsvertrag mit einem oder mehreren Rehabilitationsträgern schließe oder eine bestehende Einrichtung ein Angebot neu in ihren Versorgungsvertrag aufnehme, resümierte Prof. Felix Welti nach einer umfassenden Einordnung der Sozialgesetzgebung und einer Stippvisite in die Rechtsauslegung. Es gelte dabei zu beachten, dass nach Krankenversicherungsrecht eine solche Einrichtung unter ständiger ärztlicher Verantwortung stehen müsse, was aber nicht zwingend „Leitung“ bedeute und die Anwendung dieses Kriteriums insbesondere auf die ambulante Rehabilitation im Gesetz nicht systematisch klar geregelt sei. Dabei komme den Leistungsträgern für die Verfügbarkeit bedarfsgerechter Angebote sogar die Verantwortung zu: Nach § 17 Abs. 1 SGB I und § 19 Abs. 1 SGB IX hätten sie dafür zu sorgen, dass die fachlich und regional erforderlichen Dienste und Einrichtungen in ausreichender Zahl und Qualität barrierefrei zur Verfügung stehen.

Weitere Schritte und Praxisbeispiele in der Diskussion

Als Angehörige einer zentralen Einrichtung im Gesundheitswesen hob Dipl.-Med. Katrin Breuninger, Leiterin Team Rehabilitation/Heilmittel beim Medizinischen Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen e. V. (MDS) hervor, das der Fokus auf  ambulante Versorgungsangebote gerichtet sein sollte, um Erlerntes im gewohnten Lebensumfeld zu trainieren und somit den Verbleib der Betroffenen in der Häuslichkeit sicher stellen zu können („ambulant vor stationär“). Sie unterstrich, dass in ihrem Verständnis von Bedarfsermittlung die ICF eine feste Größe darstellt. Ihr Vorschlag: Das Konzept für ein ophthalmologisches Rehabilitationsangebot muss als trägerübergreifende Aufgabe verhandelt und konkretisiert werden, vorstellbar wäre dies z.B. unter dem Dach der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR ).

Zum Abschluss der Vorträge erhielt das Plenum praktischen Einblick in bereits bestehende Angebote für Menschen mit gravierenden Sehbeeinträchtigungen bzw. Teilhabebeeinträchtigungen nach Sehverlust. Neben dem „medizinischen Basistraining“ und einem Intensivlehrgang wurde auch der „Beratungs- und Rehabilitationsdienst“ in Bayern vorgestellt. Hier hat der Freistaat Bayern in Kooperation mit dem Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund (BBSB) und unabhängig von den Leistungsträgern landesweit zehn ambulante soziale Rehabilitationsdienste eingerichtet, die von allen Betroffenen kostenfrei genutzt werden können, sofern sie innerhalb der Landesgrenzen zuhause sind. Das bayerische Beratungsmodell sei in der aktuellen Diskussion um ein neues Bundesteilhabegesetz bereits mehrfach beispielhaft hervorgehoben worden, informierte Dr. Schmidt-Ohlemann zu Beginn der nachmittäglichen Podiumsdiskussion.

In deren Zentrum standen weiterhin Fragen der Ausbildung von Fachkräften sowie der Vernetzung vorhandener Kompetenzen, Vor- und Nachteile mobiler/ambulanter und stationärer Rehabilitation, Möglichkeiten der Integration von ophthalmologischer Rehabilitation in bestehende (mobile) Reha-Angebote – sowie die Ahnung, dass sich die Probleme auch mit dem erwarteten Bundesteilhabegesetz (BTHG) voraussichtlich nicht auflösen werden. Der Austausch mündete in den Konsens, dass die Vielzahl bedeutender Einzelmaßnahmen nur als Einheit Bestand haben kann, wenn es darum geht, ein Rehabilitationsangebot nach gravierendem Sehverlust zu implementieren.

Abschluss und Startschuss

„Wir werten diese Fachtagung als Startschuss, um an Grundsatzfragen weiter zu arbeiten, Leistungen zu definieren und ein ganzheitliches Angebot zu schaffen“, fasste Andreas Bethke abschließend zusammen. Die DVfR als das Netzwerk der Reha-Akteure in Deutschland werde diesen interdisziplinären Dialog gerne unterstützen, ergänzte Dr. Matthias Schmidt-Ohlemann.

Hier finden Sie eine ausführliche Dokumentation der Veranstaltung.

Hier finden Sie den Tagungsbericht von 2017.


[1] „Rehabilitation umfasst den koordinierten Einsatz medizinischer, sozialer, beruflicher, pädagogischer und technischer Maßnahmen sowie Einflussnahmen auf das physische und soziale Umfeld zur Funktionsverbesserung zum Erreichen einer größtmöglichen Eigenaktivität zur weitestgehenden Partizipation in allen Lebensbereichen, damit der Betroffene in seiner Lebensgestaltung so frei wie möglich wird“ (WHO: Disability prevention and rehabilitation. Technical Report Series 668. Genf. 1981. S. 9).

[2] Siehe auch: „Sehen im Alter. Das Aktionsbündnis“ unter www.sehen-im-alter.org

[3] „Blind ist ein behinderter Mensch, dem das Augenlicht vollständig fehlt. Als blind ist auch ein behinderter Mensch anzusehen, dessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch nicht beidäugig mehr als 0,02 (1/50) beträgt oder wenn andere Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad vorliegen, dass sie dieser Beeinträchtigung der Sehschärfe gleichzustellen sind. (…) Hochgradig in seiner Sehfähigkeit behindert ist ein Mensch, dessen Sehschärfe auf keinem Auge und auch nicht beidäugig mehr als 0,05 (1/20) beträgt oder wenn andere hinsichtlich des Schweregrades gleich zusetzende Störungen der Sehfunktion vorliegen. Dies ist der Fall, wenn die Einschränkung des Sehvermögens einen GdS von 100 bedingt und noch keine Blindheit vorliegt“ (Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes, Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung, Teil A, Nr. 6 vom Dezember 2008).