04.12.2019

Inklusion von Kindern mit Behinderungen verwirklichen

Auf der Fachtagung der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) am 28. November 2019 in Berlin wurden die interdisziplinäre Teilhabesicherung von Kindern mit Behinderungen im Vorschulalter und damit verbundene Herausforderungen für die Gesundheitsversorgung intensiv diskutiert. Kooperationspartner waren die Diakonie Deutschland, das Kindernetzwerk und die Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung – Bundesvereinigung (VIFF).

Rund 80 Expertinnen und Experten tauschten sich in Berlin zur Teilhabesicherung von Kin­dern im Vorschulalter aus. Die in dem zuständigen DVfR-Fachausschuss erarbeiteten Positi­onen zur Teilhabesicherung von Kindern im Vorschulalter und zur Kita bildeten dafür die Grundlage. Im Fokus des fachlichen Austausches stand die Kooperation der verschiedenen Akteure mit einem besonderen Augenmerk auf der Einbindung der betroffenen Familien. Ferner erörterten die Teilnehmenden die notwendigen Voraussetzungen eines bedarfsge­rechten Ausbaus von Unterstützungsangeboten. Ausgangspunkte waren der Vorschlag der DVfR für ein sektorenübergreifendes Netzwerk im Sozialraum sowie ihre Hinweise zur Finan­zierung von Leistungen interdisziplinärer Teams in Kindertagesstätten (Kitas), denen auch therapeutische Fachberufe angehören.

Zu Beginn der Tagung problematisierte Moderator Arnd Longrée vom Deutschen Verband der Ergotherapeuten, außerdem 1. stellvertretender Vorsitzender der DVfR, dass die Situa­tion von Vorschulkindern mit Behinderungen trotz der Vorgaben in der UN-Behinderten­rechtskonvention bisher nicht hinreichend thematisiert werde. Zur Verwirklichung der Teil­habe betroffener Kinder sei eine koordinierte Zusammenarbeit der unterschiedlichen Akteure unerlässlich, hob Dr. Peter Bartmann (Diakonie Deutschland, Berlin) im Rahmen seiner Be­grüßungsworte hervor.

Anschließend erläuterte Dr. Christian Fricke, geschäftsführender Arzt beim Werner Otto Insti­tut, einem Sozialpädiatrischen Zentrum in Hamburg, den Personenkreis der betroffenen Kin­der. Diese seien häufig chronisch krank und in besonderem Maße in ihrer Teilhabe ge­fährdet, wenn sie in von Armut geprägten Verhältnissen aufwachsen. Eltern stünden bei der Krankheitsbewältigung vor vielfältigen Herausforderungen und seien hierbei auf verständige, kontinuierliche Unterstützung angewiesen. Die Schwierigkeiten und Bedarfe der Familien griff Gitta Hüttmann von der Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung – Bundesvereini­gung auf und stellte die mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) erfolgten Änderungen der Regelungen zur Frühförderung dar. Wichtig und aufgrund der neuen Systematik aktuell in der Diskussion sei hier v. a. das Verhältnis von Teilhabe- zur Förder- und Behandlungspla­nung. Dreh- und Angelpunkt für die Umsetzung der Anforderungen an die Komplexleistung Frühförderung sei der nachhaltige Aufbau von Kooperationsstrukturen.

Bedarfsdeckende Förderung braucht Kooperationsstrukturen

Auf die Kita-Situation ging der Vorsitzende der DVfR und Facharzt für Orthopädie, Rheuma­tologie, physikalische und rehabilitative Medizin, Dr. Matthias Schmidt-Ohlemann, im letzten Teil des Vortragsblocks ein. Hier habe sich der Fachausschuss intensiv mit der Frage beschäftigt, welche Organisations- und Finanzierungsmodelle notwendig sind, damit Kinder mit großem Unterstützungs- und Förderbedarf inklusiv ausgerichtete Kindertagesstätten besuchen können und dabei mit den erforderlichen therapeutischen Leistungen versorgt werden. Schwierigkeiten bereite das Fehlen einer eindeutigen bundesweiten Rechtsgrundlage für die Integration therapeutischer Leistungen in Kitas. „Für die vom BTHG beabsichtigte bedarfsdeckende Förderung wie aus einer Hand ist die Frage der Gestaltung der Zusammenarbeit aber ganz entscheidend“, so Dr. Schmidt-Ohlemann. Problematisch sei daher die Tendenz, dass zunehmend therapeutische Leistungen in der Kita durch niedergelassene Fachkräfte nur in Form von Einzelleistungen ohne weitere Kooperationsvereinbarung erbracht würden. Grund hierfür seien die insoweit unzureichenden landesrechtlichen Regelungen.

Gegenstand der anschließenden Diskussion mit dem Plenum war v. a. das Verhältnis der Förderung durch interdisziplinäre Teams in Kitas zu Maßnahmen der Frühförderung. Hierbei sei wichtig, dass vor der Gestaltung des Leistungsgeschehens die interdisziplinäre und ICF-basierte Bedarfsermittlung der betroffenen Kinder in den Blick genommen werde. „Um dann den Anspruch insbesondere von Kindern mit schweren Behinderungen auf Teilhabe in Form des Kitabesuchs zu verwirklichen, brauchen inklusiv ausgerichtete Kitas eine entsprechende Ausstattung“, unterstrich der Leiter des DVfR-Fachausschusses Dr. Tomas Steffens von der Diakonie Deutschland die vorangegangen Ausführungen. Große Bedeutung komme guten Kooperationsstrukturen mit der Frühförderung zu; hier lägen unterschiedliche, länderspezifi­sche Erfahrungen vor. Es zeige sich, dass sektorenübergreifender Netzwerke ein probates Mittel zum Ausbau bedarfsgerechter Unterstützungsangebote darstellten. Hierfür sei aller­dings eine Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen erforderlich, um v. a. die Einbindung der betroffenen Familien und eine auskömmliche Finanzierung sicherzustellen.

Länderspezifische Modelle, Unterstützungsbedarfe auf Seiten der Eltern

Die im Vortragsblock aufgeworfenen Themen wurden im Rahmen von insgesamt drei Work­shops, jeweils auf Grundlage von Impulsreferaten, vertieft.

Workshop 1 (Moderation: Dr. Christian Fricke; Impulse: Dr. Tomas Steffens; Martina Wolf, Arbeitsstelle Frühförderung Bayern, München) beschäftigte sich dabei mit den Aufgaben der Frühfor­derung im Sozialraum. Hier diskutierten die Teilnehmenden u. a. die mögliche künftige Rolle der Frühförderstellen als Kompetenzzentren und ihre Kooperation mit Kitas. Diese sei in den Bundesländern unterschiedlich ausgeformt, oftmals komme es entscheidend auf die Haltung der Akteure an. Als besondere Herausforderungen für die Kooperation wurden ferner die Umsetzung der Neuerungen durch das BTHG sowie datenschutzrechtliche Aspekte identifi­ziert.

Therapeutische Leistungen und ihre Finanzierung in Kitas bildeten den Gegenstand von Workshop 2 (Moderation: Dr. Matthias Schmidt-Ohlemann; Impulse: Jeanette Cremer, Landschaftsverband Rheinland, Köln; Martina Letzner, Bundesvereinigung evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder, Berlin; Arnd Longrée). Deutlich wurde das aus Sicht der Kitas bestehende Spannungsverhältnis zwischen allgemeiner Nachfrage, Kapazitäten und der Umsetzung von Inklusion. Teilhabebezogene Leistungen seien im Selbstverständnis thera­peutischer Fachkräfte durchaus präsent, an einer adäquaten leistungsrechtlichen Umsetzung fehle es hingegen vielfach noch. So würden teils sogar innerhalb der Bundesländer unter­schiedliche Modelle hinsichtlich der Einbindung von Therapeutinnen und Therapeuten prakti­ziert. Für die Frage, wie die Förderung in Kitas konkret organisiert werden könne, spielten das Wunsch- und Wahlrecht der Eltern sowie ihre Einbeziehung in die Förderplanung und deren Durchführung eine zentrale Rolle. Diskutiert wurden außerdem die von Bundesland zu Bundesland unterschiedliche Praxis und die jeweils dahinterstehenden Haltungen sowie das von der DVfR bereits an anderer Stelle vorgeschlagene Modell der Leistungsbündelung.

In Workshop 3 zum Thema „Sicht der Familien – Selbsthilfe und Selbstbestimmung“ (Mode­ration und Impulse: Dr. Johannes Oepen und Birte Struntz, Kindernetzwerk, Berlin) kam zuvorderst der Bedarf an umfassender Beratung bzw. Zugang zu den benötigten Informationen bei betroffenen El­tern zum Ausdruck, v. a. mit Blick auf die passende Therapieform. Hier sei insbesondere wichtig, dass die aktuelle familiäre Situation und hieraus erwachsende Unterstützungsbe­darfe angemessen berücksichtigt würden. Dies bedeute auch, dass sich betreuende Ärztin­nen und Ärzte sowie therapeutische Fachkräfte auf die Eltern einlassen und ggf. unter­schiedliche Wege zum passenden Unterstützungsangebot mitgehen sollten. Neben der Fachlichkeit komme es daher besonders auch auf die Qualität des persönlichen Kontakts an. Hieran anschließend sei eine engere Verzahnung der Arbeit Sozialpädiatrischer Zentren mit Selbsthilfegruppen wünschenswert.

Herausforderungen für das Gesundheits- und Sozialsystem

In seinem darauffolgenden Vortrag wies der Beauftragte der Bundesregierung für die Be­lange von Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel, darauf hin, dass „die UN-Kinder­rechtskonvention und die UN-Behindertenrechtskonvention völkerrechtliche Verträge sind und dementsprechend verlässlich umgesetzt werden müssen. Für Kinder mit Behinderungen und ihre Familien bedeutet dies, dass die erforderlichen Leistungen auch ankommen müs­sen.“

Zusammenfassend ging Fachausschussleiter Dr. Tomas Steffens am Schluss der Fachtagung auf rehabilitations- und gesundheitspolitische Bausteine ein. Dabei betonte er u. a. die Notwen­digkeit der Entwicklung bzw. des Ausbaus sozialräumlicher Netzwerke und kommunaler Ge­sundheits- und Teilhabestrategien. Junge Familien bräuchten mobile Beratung und Unter­stützung, wobei die Akteure aus Politik, Praxis und Wissenschaft gefordert seien, passende Formate und Modelle in den Sozialräumen zu identifizieren. Ziel müsse sein, den betroffenen Familien einen einfachen Zugang zu Leistungen zu ermöglichen. Über das Positionspapier hinaus empfahl Dr. Tomas Steffens eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle von Ärztinnen und Ärzten im vorgeschlagenen Netzwerk sowie, mit Blick auf den Ausbau lebenslagenbezo­gener Prävention, eine Prüfung des institutionellen Arrangements.

Moderator Arnd Longrée dankte abschließend für den intensiven Austausch und beschloss die Fachtagung mit dem Ausblick, dass die Positionen der DVfR auf Grundlage der Veran­staltungsergebnisse weiterentwickelt würden. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer seien herzlich eingeladen, sich in diesen Prozess einzubringen.

Zu den Positionspapieren der DVfR:


Präsentationen der Referentinnen und Referenten