21.07.2017

„Das Bundesteilhabegesetz und die Zukunft der Persönlichen Assistenz“ – Bericht zur Informationsveranstaltung

Vom 22. bis 23. Juni 2017 fand in Berlin die Fachveranstaltung „Das Bundesteilhabegesetz und die Zukunft der Persönlichen Assistenz“ statt. Eingeladen hatte das Netzwerk für Inklusion, Teilhabe, Selbstbestimmung und Assistenz e.V. (NITSA e.V.).

Ziel war es um mit Assistenznehmerinnen und -nehmern, Experten aus Praxis und Recht der Rehabilitation und Vertretern der Politik, der Leistungsträger sowie der Selbsthilfe die Auswirkungen der Reform des Teilhaberechts auf den Anspruch auf Unterstützungsleistungen für Menschen mit Assistenzbedarf zu beleuchten und zu diskutieren.

Knapp 7 Monate nach Inkrafttreten der ersten Regelungen des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) am 1. Januar 2017 unterzogen die Referentin und Referenten das Gesetz, das bis zum 1. Januar 2023 schrittweise in vier Stufen umgesetzt werden wird, einer eingehenden Betrachtung. Ausgehend von der Frage des zukünftigen Anspruchs auf Assistenzleistungen und der damit verbundenen Thematik einer selbstbestimmten beruflichen und sozialen Teilhabe umfasste der Austausch nicht nur die ab 2020 in das SGB IX überführten Regelungen der Eingliederungshilfe (Teil 2), sondern das gesamte SGB IX in seinem komplexen Zusammenspiel. Mit der heterogenen Zusammensetzung der Referenten aus verschiedenen Bereichen des Rehabilitationsgeschehens wurden die unterschiedlichen Perspektiven auf die Prozesse und Ziele der Reform erneut gegenwärtig.

Modellprojekte begleiten den BTHG-Umsetzungsprozess

Nach einem Grußwort der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Verena Bentele, stellte zunächst Marc Nellen als Leiter des Referates Vb3 sowie der „Projektgruppe Bundesteilhabegesetz“ im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) die Eckpunkte der Reform vor. Es gelte, den Umsetzungsprozess genau zu beobachten und wesentliche neue Elemente durch Modellvorhaben vorzubereiten. Zu diesem Zweck sollen ausgewählte Umsetzungsschritte modellhaft erprobt und Wirkweisen sowie finanzielle Auswirkungen der Reform durch wissenschaftliche Untersuchungen und Machbarkeitsstudien begleitet werden. Auch Matthias Münning, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS), unterstrich, dass ein Großteil der neuen Regelungen erst in Kraft treten werde, wenn Erfahrungen und Ergebnisse zu Verfahren wie Leistungen aus Erprobungsmodellen vorlägen. Zudem seien die Träger der Eingliederungshilfe von den Ländern neu zu bestimmen. Anschließend widmete sich Horst Frehe vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen (FbbJ) den zukünftigen Änderungen durch das BTHG, u.a. der für Jahr 2023 vorgesehenen Definition eines leistungsberechtigten Personenkreises der Eingliederungshilfe nach § 99 SGB IX. Es sei fraglich, warum die Eingliederungshilfe als Einzige einen neuen Behinderungsbegriff erhalten solle, so Frehe. Zu begrüßen sei hingegen etwa die dynamische Bezugsgröße zur Bemessung von Vermögen.

Austausch und Vernetzung

Im Rahmen eines Workshops zum Erfahrungsaustausch der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, moderiert von dem Autor und Aktivisten Raúl Krauthausen, bildeten die Chancen der Förderung einer sogenannten ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung nach dem BTHG einen Schwerpunkt. Ab dem 1. Januar 2018, für die Dauer von bis zu 5 Jahren, stellt der Bund jährlich insgesamt 58 Millionen Euro für die Umsetzung und Förderung der Teilhabeberatung sowie deren Evaluation zur Verfügung. Aus Sicht der Selbsthilfe sei es gerade in der aktuellen Bewerbungsphase[1] wichtig, sich stärker zu vernetzen, ggf. über ein interaktives Online-Forum. Dies gelte auch für ein gemeinsames Engagement in anderen Fragen. Vorbild könne die sogenannte „Krüppelbewegung“ der 80er-Jahre sein, die einige der Anwesenden aktiv begleitet hatten. Man müsse sich davon lösen, dass jeder nur seine eigene Schlacht kämpfe.

„Wo hat im Gesetz die Frage der Kosten gewonnen, wo die der Selbstbestimmung?“

Als einen „unlösbaren Konflikt“ bezeichnete Barbara Vieweg von der Interessensvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL) den Anspruch des BTHG, mehr Selbstbestimmung und Teilhabe für Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen und zugleich die Entstehung einer Kostendynamik in der Eingliederungshilfe zu verhindern. Dreiviertel der in den letzten Jahren stark gestiegenen Kosten der Eingliederungshilfe gingen nach Zahlen aus dem Jahr 2015[2] an stationäre Einrichtungen, obwohl das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) eine De-Institutionalisierung anstrebe. Mit dem BTHG falle nun der Grundsatz „ambulant vor stationär“ zusätzlich weg[3]. Zwar hätten die Länder im Sinne ihrer Strukturverantwortung nach § 94 SGB IX für flächendeckende, bedarfsdeckende, am Sozialraum orientierte und inklusiv ausgerichtete Angebote von Leistungsanbietern hinzuwirken. Ob jedoch dem Wunsch eines Antragsstellers nach ambulanter Unterstützung – wie z.B. Persönliche Assistenz – entsprochen werde, entscheide der Leistungsträger nach Vorgabe des § 104 SGB IX. Es sei wesentlich zu verfolgen, wie dieser im Rahmen zukünftiger Rechtsprechung ausgelegt werde, so Vieweg. Aus Sicht der Selbsthilfe sei bedauerlich, dass eine ergänzende unabhängige Teilhabeberatung gemäß der entsprechenden Förderrichtlinie vom Mai 2017[4] eine Beratung im Widerspruchs- und Klageverfahren ausschließe, denn gerade in diesen Situationen werde Beratung benötigt. In der anschließenden Diskussion ermunterte Vieweg die Anwesenden aus Vereinen und Initiativen dennoch, sich an den Ausschreibungen zur Förderung einer unabhängigen Teilhabeberatung durch das BMAS zu beteiligen. Das ZSL werde ggf. bei der Antragstellung unterstützen. 

Als Erfolg aus der Sicht Betroffener wertete Dr. Harry Fuchs in seinem Vortrag die Änderungen des BTHG in der Einkommens- und Vermögensanrechnung, obgleich das Verfahren menschenrechtlich kaum vertretbar sei. Insgesamt erwarte er eine bundesweit uneinheitliche Rechtsauslegung der Neuregelungen, verbunden mit vielfältigen Ermessenspielräumen. Wie schon Referenten vor ihm widmete auch Fuchs den Begriffen „angemessen“, „zumutbar“ und „vergleichbar“ besondere Aufmerksamkeit. Insbesondere in der Bedarfsermittlung seien fürsorgerechtliche Prinzipien übernommen worden. Der Dreh- und Angelpunkt liege auch zukünftig in der Frage, inwieweit dies mit den Menschenrechten der UN-BRK vereinbar sei.

Mit ihren Präsentationen haben die Referenten wesentliche Inhalte ihrer Vorträge zum Download bereitgestellt. Auch skizziert eine Mind-Map des Workshops zum Erfahrungsaustausch die wichtigsten Themen dieser Diskussion.


Fußnoten:

[1] Anträge für die erste Förderperiode können bis zum 31. August 2017 an die vom BMAS beauftragte Gesellschaft für soziale Unternehmensberatung mbH (gsub) gerichtet werden.

[2] Vgl. Tagungsdokumentation 

[3] Vieweg verwies in diesem Zusammenhang auf den Fachbeitrag von Rosenow: Wegfall des Vorrangs der ambulanten Hilfe im Arbeitsentwurf für ein Bundesteilhabegesetz; Beitrag D12-2016 unter www.reha-recht.de; 07.04.2016